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Indien: Gute Entwicklungsstrategien

Die kleinen Triumphe der Langsamkeit

10. Oktober 2013 | Was eigentlich macht gute Entwicklungszusammenarbeit aus? Möglichst viel Geld, ausgefeilte Programme, formelle Konzepte? Oder kommt es auf andere Faktoren an? In Indien geht ein Hilfswerk andere Wege.

Text: Joseph Keve, Kavli Medu; Übersetzung: Pit Wuhrer

«Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich das Gefühl, dass die Regierung etwas für uns getan hat», sagt Manjula Ravi und zeigt stolz die Urkunde, die in eine Folie verpackt ist. Das Papier ist ein Besitztitel. Es dokumentiert, dass ihrer Familie seit kurzem ein Stück Land gehört, nur zwei Acres gross, umgerechnet rund 0,8 Hektar, aber immerhin. Die 37-Jährige steht auf einem Hügel im Distrikt Chittoor des indischen Bundesstaats Andra Pradesh. Die kleine Erhebung ist auf der einen Seite bewaldet, auf der anderen Seite befindet sich ein irdenes, selbst gebautes Wasserreservoir. Eine leichte Brise weht uns ins Gesicht, und Manjula Ravi kann immer noch nicht so recht das Glück begreifen, das ihr da widerfahren ist.

2008 hatte sie mit ihrem Mann und den 21 anderen Familien des Dorfs Kavli Medu, die allesamt dem Yenadi-Stamm angehören, um das Land zu kämpfen begonnen, das einst ihren Vorfahren gehörte. Der Kampf war anstrengend gewesen: Hunderte von Meetings, zahllose Petitionen, viele Besuche bei Behörden und LokalpolitikerInnen. Dazu die Reaktion der Landmafia: Überfälle durch Schlägertrupps der GrundbesitzerInnen, die – unterstützt von der Polizei – Frauen belästigten, Männer krankenhausreif schlugen, Wasserleitungen kappten, ihre Hütten anzündeten. Und doch liessen sie nicht locker. Sie beschwerten sich nach jedem Übergriff, zeigten die Täter an und konnten dabei auf die Unterstützung von dreissig Dorfgemeinschaften in der Umgebung zählen. 2010 lenkten die lokalen Behörden ein und stellten im Februar 2012 den 22 Familien Besitztitel über insgesamt knapp sechzehn Hektar Land aus. Manjula Ravis vierzehnjähriger Tochter Lakshmi Devi steht die Freude über den Erfolg noch ins Gesicht geschrieben. «Jetzt können wir endlich sagen, dass wir dem Wald gehören und der Wald uns.» So wie früher. «Jahrhundertelang haben unsere Vorfahren fruchtbares Ackerland entwickelt und kultiviert», erinnert sich Pedda Doaiswanny, mit 72 Jahren das älteste Dorfmitglied, «sie haben sich selbst versorgt und beherrschten die Wälder und Felder.» Doch dann seien sogenannte Siedler aus den Ebenen aufgetaucht, «die uns zum Rückzug in die Wälder und auf die Hügel zwangen und uns auch das noch wegnehmen wollten».

Auf dem Weg nach Kavli Medu waren wir an riesigen Mangoplantagen vorbeigekommen. Die zum Teil mehrere Tausend Hektaren grossen Obstgärten waren in den vergangenen Jahren von der Lokalregierung den «Siedlern» zugewiesen worden, die mit ihren Investitionen die Region zu entwickeln versprachen. Doch von Entwicklung keine Spur: Die Yenadis, die das Land bis dahin bearbeitet hatten, wurden von den neuen GrundbesitzerInnen verjagt. «Meist kamen sie mit Beamten und Polizisten, mit Traktoren und Planierraupen und überrollten unsere erntereifen Hirsefelder», erinnert sich Ravi, Manjula Ravis Mann. «Wer dagegen protestierte, wurde von der Polizei geknebelt und abgeführt.»

Intervention von unten

Man kennt solche Geschichten; sie kommen überall vor, weltweit. Und auch die Klagen der Menschen über Vertreibung und Verelendung klingen ähnlich. Und doch sind die Menschen hier in diesem Teil von Andhra Pradesh nicht verzweifelt. Zwar müssen sich Manjula und ihr Mann Ravi weiterhin bei einem Landlord verdingen – für dreissig Rupien, umgerechnet fünfzig Rappen, pro Tag. Zwar müssen ihre Töchter Lakshmi Devi und die jüngere Alivelu Amma Wasser holen, Brennholz sammeln und nach Beeren, Wurzeln oder wilden Früchten suchen. Aber sie haben inzwischen eine Zukunft, eingeschweisst in ein Stück Folie. «Unser Leben und unser Auskommen hingen immer vom Land ab», sagt Devraj Yenadi. «Ohne Land werden wir nicht nur von den Siedlern und den Behörden wie Bettler behandelt, sondern auch von den Gemeinschaften in der Umgebung», erläutert der 65-Jährige unter einem Grasdach. Devraj Yenadi ist ein allseits respektierter Alter und Heiler, der Kranke mit Kräutermedizin kuriert und die Geister der Vorfahren anruft. «Land gibt uns Identität; es ist unsere Sicherheit, unsere Lebensgrundlage, unsere Zukunft.»

«Man muss selbst landlos sein und ständig herumgekickt und gedemütigt werden, um die Situation der Menschen hier zu verstehen», sagt Ramachandra Chari, Koordinator der Society for Rural Resource Improvement (SRRI). «All unsere Bemühungen, mit den Yenadis in Kontakt zu kommen und ihnen zu helfen, schlugen fehl – bis wir verstanden und akzeptiert hatten, dass sich bei ihnen alles um Land und um Landbesitz dreht.» Danach habe sich alles von selbst ergeben.

Bevor er in die Region kam, hatte Ramachandra Chari für eine grosse nichtstaatliche Organisation (NGO) gearbeitet. Die habe über ein riesiges Budget zur Finanzierung von Bildungs-, Gesundheits-, Wohnungsbau-, Beschäftigungs- und Mikrokreditprogrammen verfügt. «Aber trotz der Milliarden an Rupien, die die NGO einsetzte, mussten die Ärmsten weiterhin für einen Hungerlohn arbeiten.» Selbst teure und vielfältige Angebote, so Chari, könnten den Menschen nicht dieselbe Hoffnung und dasselbe Selbstvertrauen geben wie ein Stück Land, das ihnen gehört.

Das sieht auch Rama Krishna so, den wir am selben Abend bei einem Essen treffen. «Programme zu entwickeln und Geld auszugeben, ist einfach», sagt der Koordinator der Social Health Education Development Society (SHEDS). Alle seien mit solchen Programmen glücklich – die Grossgrundbesitzer, die Händler und die LokalpolitikerInnen. «Aber sobald die Armen Land verlangen und auch bekommen, vereinen sich die repressiven Kräfte gegen die Menschen, weil Grundbesitzer und Händler um ihr Reservoir an billigen Arbeitskräften für ihre Felder, Fabriken und Geschäfte fürchten.»

Rama Krishna kennt sich aus. Er war Dozent an einem College in Chittoor und arbeitete mehrere Jahre für eine grosse NGO, bevor er zu SHEDS kam. «Viele Hilfswerke wissen zwar, was da passiert», erläutert er, «aber sie stellen sich nicht der Herausforderung: Sie halten es für zu riskant, gegen die etablierten Kräfte anzugehen.» Danach erzählt er noch viele Geschichten über Landlords, die ArbeiterInnen mit erfundenen Anschuldigungen malträtieren, und über AktivistInnen, die lange mit ihrer Etikettierung als «Extremisten» oder «Anarchisten» zu kämpfen hatten. «Wir hingegen beziehen unsere Kraft aus dem Vertrauen, das wir in die Gemeinschaft haben und das die Menschen uns entgegenbringen.» Und das sei viel mehr wert als das Geld, die schönen Programme und die ausführlichen und bunten Projektberichte und Evaluationen für die Geberorganisationen.

Was Ramachandra Chari von SRRI und Rama Krishna von SHEDS verbindet, ist nicht nur die Erkenntnis, dass Hilfsprojekte unten ansetzen müssen und dass sie in der gleichen Region arbeiten – ihre NGOs werden auch von derselben Organisation unterstützt: dem schweizerischen Hilfswerk Fastenopfer.

Der Preis der Unterstützung

Kurze Rückblende. Vor unserem Besuch in Kavli Medu trafen wir uns mit Ajoy Kumar. Kumar, 55 Jahre alt, ist seit 21 Jahren der Indienbeauftragte von Fastenopfer . Er studierte Agrarwissenschaft und später politische Ökonomie und beschloss in den frühen achtziger Jahren, inspiriert vom Schweizer Jesuiten Henry Volken (1925–2000), mit den Adivasis und Dalits zu arbeiten: Die Nachfahren der UreinwohnerInnen und die «Unberührbaren» sind die am meisten marginalisierten Bevölkerungsgruppen Indiens (vgl. «Von ‹Shining India› geblendet»).

Seither verbringt Ajoy Kumar die meiste Zeit auf dem Land und in den Dörfern, wo er darauf achtet, dass die MitarbeiterInnen der von Fastenopfer unterstützten NGOs mit ihren Programmen seiner Vision auch folgen. Er befürwortet entschieden das Recht der Indigenen auf Land und Wälder, von denen ihre Nahrungsversorgung abhängt.

Da er sich zudem direkt an den Kämpfen um Landrechte beteiligt, wird er immer wieder von GrundbesitzerInnen und Firmen bedroht, die sich Ländereien in grossem Massstab aneignen. In den Bundesstaaten Chhattisgarh und Jharkhand zum Beispiel, wo die Regierungen mit Konzernen zusammen Land Grabbing betreiben, haben ihn die Behörden auf dem Radar. Wann immer er dort Workshops abhält, tauchen danach GeheimpolizistInnen in den Dörfern auf, um mehr über die Diskussionen und Pläne zu erfahren. Stört ihn das? «Das ist eben der Preis, den man zahlen muss, wenn man die Armen unterstützt», sagt Kumar und wiegt bedächtig den Kopf. Trotzdem wäre es ihm lieber, wenn wir den genauen Ort unseres Treffens in Bangalore nicht verraten.

Später fahren wir mit ihm die 175 Kilometer nach Chittoor und nochmals 40 Kilometer weiter nach Kavli Medu. Unterwegs erläutert er sein Konzept, das er als «soziokulturellen Ermächtigungsprozess» bezeichnet: «Wir lehnen Entwicklungsmodelle ab, die sich auf auswärtige Hilfe oder vom Markt diktierte Alternativen stützen», sagt er, «und setzen stattdessen auf die Selbstbefreiung der Menschen durch kollektives Handeln und das Vertrauen auf die eigene Kraft.» Wenn sie eine Chance bekämen, fügt er hinzu, dann nutzten sie das Potenzial, das in ihnen stecke.

Vierzig Millionen Vertriebene

Das macht den Kern seines Ansatzes aus. Während die meisten Hilfswerke und die grossen indischen NGOs (Pradan, Care India, Assefa oder die Mikrofinanzorganisation SKS) entweder dem Diktat ihrer GeldgeberInnen folgen oder sich längst mit der Globalisierung und dem auch die indische Politik dominierenden Wirtschaftsliberalismus arrangieren, haben sich Kumar und Fastenopfer für einen mühsamen und langen Weg entschieden: keine kurzfristigen Programme, keine schnellen (und oft nur vordergründig erfolgreichen) Projekte. Sondern auf die Hoffnungen der ärmsten Teile der indischen Gesellschaft setzen, sie wahr- und ernst nehmen, sie verstehen und auf ihre innere Stärke bauen. Das kann bis zu zehn oder zwölf Jahre dauern. So lange braucht es allen Erfahrungen nach, bis die unterdrückten Menschen am untersten Rand der Gesellschaft die Herausforderungen annehmen und die Dynamik ihres Emanzipationsprozesses verstehen.

Dank dieser Strategie haben Kumar und die von Fastenopfer unterstützten Organisationen während der letzten zwei Jahrzehnte rund 460 Dörfer aus dem Programm entlassen können: Deren Gemeinschaften stehen mittlerweile auf eigenen Beinen. Eine am Lebensunterhalt orientierte Wirtschaft, verantwortungsvoller Umgang mit den Ressourcen, öffentliche Kontrolle statt privater Dominanz, Opposition gegen Ausbeutung, gegen die Plünderung der Rohstoffe und die zerstörerische Profitgier der Konzerne – auf diesen Nenner könnte man die Philosophie des basisdemokratischen Ansatzes bringen.

Die grossen privaten Geber wie die Ford Foundation, die Bill & Melinda Gates Foundation oder Plan International haben da ganz andere Ziele. Diese wollen den «weniger Glücklichen» den Weg in die gesellschaftliche Mitte ebnen, indem sie mildtätig Almosen verteilen – die gesellschaftlichen Verhältnisse aber nicht infrage stellen. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass es in Indien im Jahr 2000 rund dreissig Millionen Vertriebene gab, verdrängt von Grossbauprojekten wie Staudämmen, Bergwerken, Flughäfen oder Industriegebieten und von Unternehmen, die sich massenhaft Land aneignen. Heute sind es vierzig Millionen, und die Vertreibung hält an. Statt mit ihrem politischen Einfluss dafür zu sorgen, dass beispielsweise den Adivasis das von der indischen Verfassung garantierte Recht auf Land auch tatsächlich gewährt wird, beschränken sich die grossen Organisationen auf ein bisschen Hilfe bei der Umsiedlung.

Eine Getreidebank für alle

Während andere das Augenmerk auf die üblichen Hilfsprogramme für Bildung und Gesundheit, für mehr Beschäftigung und die Entwicklung von am Markt orientierter Geschäftstüchtigkeit legen, setzen Kumar und Fastenopfer bei den Menschen an. Das ist jedoch nicht leicht getan. Wie bringt man Leute, die bisher immer nur von allen herumgestossen wurden, dazu, Mut zu fassen? Welche Massnahmen stärken die Solidarität? Gibt es Programme, die die Verelendeten das Gute in sich entdecken lassen?

Es gibt sie. Über die Jahre hinweg hat Fastenopfer für seine Projekte eine mehrstufige Strategie entwickelt. Dazu gehören die Einrichtung von Getreidebanken, eine starke soziale Mobilisierung und die Rückbesinnung auf kulturelle und spirituelle Traditionen – und zwar alles zusammen.

Zum Konzept der Getreidebank: Als das Programm 2004 im Distrikt Chittoor begann, gab es kaum Yenadi-Angehörige, die nicht von Grundbesitzern oder Geldverleiherinnen abhängig gewesen wären. Ein Unfall, eine Krankheit, eine Hochzeit oder ein Todesfall – stets führten solche Ereignisse direkt zur Tür des Geldverleihers. Aus der Schuldknechtschaft gab es angesichts der minimalen Löhne und Zinsraten von bis zu 200 Prozent im Jahr kaum ein Entrinnen. «Erst die Getreidebankidee hat uns einen Ausweg geboten», sagt die sechzigjährige Sarojamma Patamma, die in Kavli Medu die Buchhaltung dieser «Bank» führt. «Jeder trägt bei, was er kann. Und je mehr Reis wir haben, desto grösser wird unser Selbstbewusstsein.»

Und wie funktioniert diese Reissparbank? «Zuerst übergeben alle Männer zehn Kilo als einmalige Einlage», erläutert Patamma, «die meisten werden von den Grundbesitzern ohnehin in Form von Reis bezahlt. Dann steuern die Frauen pro Tag eine Handvoll Reis bei, die sie sich vom täglichen Mahl absparen.» Überschreitet die so angesparte Menge ein gemeinschaftlich festgesetztes Quantum, wird der Überschuss unter den Sparenden verteilt, die ihren Teil verkaufen und damit ihre Schulden zurückzahlen können. Oder es geht – praktisch zinsfrei – an Bedürftige in Not.

Das System, das sich an den Möglichkeiten der Ärmsten orientiert, allen zugänglich ist und gemeinschaftlich gemanagt wird, kommt ohne externe Subventionen und ohne Geld aus. Hauptziel ist die Befreiung aus der finanziellen Abhängigkeit. Doch das ist nur die erste Stufe.

Die Rolle der AnimatorInnen

Fasst eine Dorfgemeinschaft auf diese Weise Selbstvertrauen, wird die Bildung einer Sangha angeregt, einer Gruppe von aktiven DorfbewohnerInnen. Diese treffen sich mindestens zweiwöchentlich, analysieren die Lage und besprechen die nächsten Schritte. Denn eine Getreidebank allein bietet noch keine Lösung: Die DorfbewohnerInnen bleiben lohnabhängig, bis ihnen so viel Land gehört, dass sie davon leben können. Und das kann angesichts des gewaltsamen Widerstands von oben dauern. Das heisst: Auf die Selbsthilfe muss mehr folgen. «Wo immer die Sanghas stark sind, sollten wir uns politisch einmischen und unsere Rechte als Bürger verteidigen», sagt beispielsweise der 25-jährige Rajamma Yenadi, der bei den nächsten Lokalwahlen kandidieren will. Auch Venkat Raman, 40, aus Kavli Medu tritt an: «Es nützt doch nichts, wenn wir uns nur über die Politiker beklagen.»

Eine zentrale Rolle bei der Koordination des dorfübergreifenden Widerstands spielen die sogenannten AnimatorInnen, geringfügig bezahlte NGO-AktivistInnen, die für fünf oder sechs Dörfer zuständig sind. Sie sind dort mindestens einmal pro Woche anzutreffen, organisieren die monatlichen Gemeinschaftstreffen von gewählten Sangha-VertreterInnen, gehen in Nachbardörfer, erzählen dort von der Reisbank und dem Enthusiasmus, den die Einrichtung auslöste. Kommen neue Sanghas dazu, bilden dreissig Gruppen ein informelles Netz. Dieses schafft ein regionales Gemeinschaftsgefühl, erleichtert die gegenseitige Unterstützung und ermöglicht kollektive Massnahmen – etwa den Kampf für höhere Löhne und mehr Land oder einen effektiveren Widerstand gegen Übergriffe von Landlords und Polizei.

Die Gegenseite passt sich solchen Entwicklungen oft notgedrungen an. Da die repressiven Kräfte mit den Stammesangehörigen nicht mehr einfach nach Belieben umspringen können, verfeinern sie ihre Strategien. Ihre Aggressivität verläuft kontrollierter, sie treffen sich sogar mit den Sangha-VertreterInnen. Und so geschah Ende März 2012 das bis dahin kaum Vorstellbare: Lokalpolitiker und Beamte besuchten den Weiler Kavli Medu, grüssten mit gefalteten Händen und boten den Menschen Hilfe und Unterstützung an.

Aber kann man ihren Gesinnungswandel überhaupt ernst nehmen? Nein, antwortet Venkat Raman und lächelt dann: «Sie wollen lediglich im Geschäft bleiben.» Durch diese Transformation, langsam und basisdemokratisch, selbstbestimmt und nicht von Geberorganisationen diktiert, die mit am Ergebnis orientierten Managementstrategien von aussen eingreifen, werden die Menschen respektiert. Und dazu gehört auch die Anerkennung ihrer Traditionen.

Der kulturell-spirituelle Zusammenhang

«Das Wichtigste an unserem Ermächtigungsprozess ist, dass wir beim Glauben ansetzen, an unseren kulturellen Wurzeln», sagt Laxmi Ananthappa, 40, Animatorin im Dorf Nunerupalli. «Nichts gibt den Menschen so viel Antrieb.» Darauf basiere ihre Kraft, sagen auch andere BasisaktivistInnen. «Einem Yenadi kann nichts Schlimmeres passieren, als vom seinem Land verjagt, aus seiner Umgebung vertrieben zu werden und von Gläubigern abhängig zu werden», erläutert Patamma von der Reisbank. «Aber mindestens genauso schlimm ist es, nicht mehr eine unversehrte Natur und die Vorfahren anbeten zu können.»

Und das tun die Yenadis jetzt wieder, weil sie zumindest ein kleines Stück dieser Natur besitzen. Wir haben es während unseres Aufenthalts erlebt. Frauen und Kinder bringen alle Ingredienzien für eine Puja mit (eine Art Ehrbezeugungsritual gegenüber den Vorfahren): Sie stellen einen Korb voll Fingerhirse, Wurzeln, Elefantenäpfel, Honig und Beeren in einen winzigen, blumenbedeckten und provisorischen Tempel. Sie singen und tanzen, während Devraj, der Heiler, in Trance den Kontakt zu den Vorfahren sucht und in deren Namen die Fragen der Anwesenden beantwortet. Die Yenadis sind wie viele Adivasis AnimistInnen, für die alles in ihrer Umgebung beseelt ist und respektiert gehört. Die Anbetung stellt die Verbindung zur Vergangenheit her, hilft bei der Bewältigung der Gegenwart und gibt Hoffnung für die Zukunft.

«Wir brauchen nicht viel», sagt Vasanta Yenadi am Ende unseres Besuchs. «Verhelft uns zu unserem Land. Unterstützt uns bei der Befreiung aus der Knechtschaft. Lasst uns unsere Wurzeln finden.» Den Rest, sagt die 31-jährige Mitarbeiterin von SRRI, «den managen wir allein».


Von «Shining India» geblendet

Für die sogenannten Scheduled Tribes, das sind die Stämme der Urbevölkerung, und die Scheduled Castes, die untersten Kasten, bedeutet die seit Indiens Unabhängigkeit 1947 proklamierte Freiheit nichts. Für sie – die rund ein Viertel der Bevölkerung Indiens ausmachen – und viele andere gibt es keine Freiheit von Armut, von Unterdrückung, von Diskriminierung. Man sieht das in den abgelegenen Dörfern überall im Land wie in den Slums der Grossstädte. Selbst konservative Schätzungen gehen davon aus, dass über ein Drittel der InderInnen unter der Armutsgrenze leben und an Hunger leiden.

Doch das ignorieren viele. Auch die meisten Geberorganisationen und grossen NGOs lassen sich seit einiger Zeit vom Glanz des «Shining India» blenden: bis vor kurzem beachtliche Wachstumsraten, eine prosperierende Mittelschicht, um sich greifende Industriezonen. Und noch etwas hat sich geändert: In den ersten Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit waren jene, die sich für die Befreiung der Armen einsetzten, hoch angesehen – alle zollten ihnen Respekt, auch die Regierung. Seit der Entfesselung der Marktkräfte und der wirtschaftlichen Liberalisierung geraten basisnahe NGOs zunehmend unter Druck – und werden als «Verräter der nationalen Interessen» verfolgt (siehe die Texte «Diener der ausländischen Kräfte» und Angeschlagen, aber nicht ausgezählt). Derzeit sitzen Tausende SozialaktivistInnen und MenschenrechtlerInnen in Gefängnissen, viele von ihnen ohne gerichtliches Urteil. Unter ihnen befinden sich auch Menschen, die nichts anderes taten, als den Forest Rights Act umzusetzen, den das indische Parlament 2006 verabschiedet hat. Dieses Gesetz erlaubt der lokalen Bevölkerung, in den Wäldern Brennholz, Wurzeln, Kräuter und Früchte zu sammeln. Auch die Mainstreammedien beteiligen sich am NGO-Bashing. Die Folge: Kleine, soziale Unterstützungsgruppen und Menschenrechtsorganisationen geraten zunehmend in die Defensive, müssen ihre basisorientierte Arbeit rechtfertigen – und verlieren die Gunst vieler internationaler Hilfsorganisationen. Die Zentral- und Bundesstaatsregierungen (die oftmals Armee und Polizei gegen widerständige Arme einsetzen) und die Brutalität von industriellen und spekulativen InvestorInnen haben dazu beigetragen, dass fast ein Drittel des Landes zur Kriegszone wurde. In einem breiten Gürtel, der sich von Westbengalen im Nordosten bis nach Karnataka im Süden zieht, bekämpfen die von vielen armen LandbewohnerInnen unterstützten maoistischen Guerillas der NaxalitInnen die Staatsgewalt und die Konzerne.