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Indien: Die Massenproteste nach der Vergewaltigung

Die Tabus einer patriarchalen Gesellschaft

8. Januar 2013 | Erstmals in der indischen Geschichte hat sexuelle Gewalt eine Massenbewegung ausgelöst, die auch von der Regierung nicht gestoppt werden konnte. Doch es war nicht die Tat allein, die viele empörte.

Text: Jancy Augustine, Joseph Keve; Übersetzung: Pit Wuhrer

Seit Wochen gibt es in Indien nur ein Thema, das die Menschen und die Medien bewegt – und ein Ende ist nicht absehbar. Denn ständig kommen neue Meldungen hinzu. Am Samstag war es die Nachricht, dass die 23-jährige Physiotherapiestudentin gestorben sei, die Mitte Dezember von sechs Männern in Delhi misshandelt, vergewaltigt und mit ihrem Freund aus einem fahrenden Bus geworfen worden war. Am Sonntag folgte die Aussage des Erziehungsdirektors der südindischen Stadt Puducherry, demzufolge junge Frauen künftig doch gefälligst Überwürfe tragen sollten, damit ihre Reize nicht offen sichtbar seien. Am Montag eröffnete ein Distriktgericht in Delhi das Verfahren gegen die mutmasslichen Vergewaltiger – und schloss wegen der aufgeheizten Stimmung die Öffentlichkeit aus. Und ebenfalls am Montag sorgte schliesslich die Bemerkung eines selbst erklärten Gurus für Schlagzeilen: Die Frau sei auch selbst schuld gewesen, sagte Asaram Bapu; sie hätte sich ihren Peinigern nur zu Füssen werfen und um Gnade flehen müssen, dann wäre ihr schon nichts passiert.

Nur eine Meldung ging etwas unter, und die hat es in sich: Am vergangenen Freitag forderte der oberste Gerichtshof des Landes die Zentralregierung auf, endlich jene Parlamentsmitglieder zu suspendieren, gegen die wegen Gewalt gegen Frauen ermittelt wird. Im zentralindischen Parlament in Neu-Delhi und in den Parlamenten der Bundesstaaten sitzen insgesamt 4835 Abgeordnete (Frauen inklusive) – und gegen 1448 von ihnen laufen einschlägige Verfahren.

Allein diese Zahl umschreibt die Dimension eines Skandals, der wochenlang Zehntausende auf die Strasse trieb und die indische Öffentlichkeit empört wie nie zuvor. Sie zeigt aber auch das Dilemma der von der Kongresspartei angeführten Regierungskoalition. Befolgt die United Progressive Alliance die Anordnung des Supreme Court und geht sie auch gegen die Reichen und Mächtigen in ihren Reihen vor? Oder sucht sie hinter all den Krokodilstränen, die viele PolitikerInnen vergiessen, nach Schlupflöchern für die eigenen Leute?

Die tägliche Gewalt

Jedenfalls hatten die Behörden auf die zahlreichen Proteste, Demonstrationen und Kundgebungen nach der Gruppenvergewaltigung der jungen Frau zunächst auf bekannte Weise reagiert: Polizeieinsätze, Tränengas, Wasserwerfer, Versammlungsverbote. Erst nach einer Woche – da hatte man die Schwerverletzte sicherheitshalber bereits in ein Krankenhaus nach Singapur ausgeflogen – folgten die ersten Stellungnahmen. «Gewalt dient niemandem», sagte Premierminister Manmohan Singh und liess bekannt geben, dass die Familie des Opfers finanziell und mit Jobs entschädigt werde. Als auch das die Menschen nicht beruhigte, setzte die Regierung (wie schon oft) eine Untersuchungskommission ein, und seither überschlagen sich viele PolitikerInnen – vor allem von der rechtsnationalistischen Volkspartei BJP – mit Forderungen nach besonders harter Bestrafung der Täter.

Dabei ist die Vergewaltigung der Studentin kein Einzelfall. Laut offiziellen Statistiken wird in Indien alle zwanzig Minuten eine Frau vergewaltigt. Noch viel häufiger werden Frauen angemacht, betatscht, sexuell belästigt und verfolgt, zu Hause eingesperrt und zur Abtreibung gezwungen (siehe auch den Artikel Hundert Söhne, keine Töchter). Oder sie fallen «Ehrenmorden» zu Opfer, wenn sie Kasten- oder Gemeinschaftsgrenzen ignorierten.

«Vergewaltigungen und sexuelle Angriffe sind keine Fehltritte, sie sind die Norm», sagt etwa Kavitha Krishnan, Sekretärin der All India Progressive Women's Association, eines Bündnisses linker Frauenorganisationen. «Und unsere Gesellschaft zelebriert das auch noch, wie man an den sexuellen Belästigungen während des Frühlingsfests sieht: Beklagt sich eine Frau darüber, fragen alle nur, welche Rolle sie dabei spielte, welche Kleidung sie trug, warum sie abends ausging.»

Angaben des indischen Justizministeriums bestätigen ihre Einschätzung: Bei 229.000 der im Jahre 2011 registrierten 256.000 Gewalttaten waren Frauen das Opfer. Und in neunzig Prozent dieser Fälle richtete sich die Gewalt gegen Frauen der marginalisierten Gesellschaftsschichten – Angehörige der Stammesbevölkerung, der untersten Kasten, der Minderheiten. Die Dunkelziffer ist viel höher. Denn viele schweigen, weil sie selbst dann kaum auf Gerechtigkeit hoffen können, wenn sie sexuelle Übergriffe anzeigen, sich Schmähungen aussetzen und peinliche Befragungen und oft jahrelange Verfahren über sich ergehen lassen müssen: Nur in einem Prozent aller Fälle werden die Vergewaltiger verurteilt.

Diese alltägliche Gewalt gegen Frauen schaffte es bisher nur selten an die Öffentlichkeit und wurde bisher auch nur dann in den Medien kurz erwähnt, wenn sich die Gemeinschaft zusammentat. So wie im Fall der vierzehnjährigen Tennisspielerin Ruchika Girhotra, die sich das Leben nahm, nachdem sie von einem hochrangigen Polizeiinspektor des Bundesstaats Haryana vergewaltigt worden war (der Polizist wurde später befördert). Wie im Fall der 34-jährigen Kellnerin Jessica Lal, die vom Sohn eines einflussreichen Kongresspolitikers erschossen wurde, weil sie in der Sperrstunde keinen Drink mehr ausgeben wollte.

Aufrufe zur Massenvergewaltigung

Die Liste ist schier endlos. Als 2006 in Maharashtra zwei Frauen das ihnen rechtmässig zustehende Land in Besitz nehmen wollten, wurden sie von einer Gruppe Landbesitzer ausgezogen, vergewaltigt, nackt durch die Strassen geführt und erschlagen. Lokale Politiker sorgten dafür, dass die Polizei dem Fall lange nicht nachging – die Frauen gehörten den Dalits an, den «unberührbaren» Kastenlosen. Und im September 2012 wurde im Bundesstaat Haryana ein sechzehnjähriges Mädchen von acht Betrunkenen aus der hohen Kaste der Jats misshandelt, die die Gruppenvergewaltigung auch noch filmten und das Video im Dorf herumzeigten; ihr Vater nahm sich das Leben.

Die indische Gesellschaft ist von sexueller Gewalt durchsetzt. In Kaschmir und im unruhigen Nordosten des Landes werden Vergewaltigungen durch Soldaten der indischen Armee regelmässig unter den Teppich der «nationalen Sicherheit» gekehrt. Bei den Auseinandersetzungen um die Babri-Moschee in Ayodhya im Jahr 1992 riefen die BJP-Hindunationalisten – die jetzt die Todesstrafe für die Mörder von Delhi verlangen – zur Massenvergewaltigung muslimischer Frauen auf, und unter dem Kommando des Chief Minister von Gujarat, Narendra Modi (BJP), kam es 2002 ebenfalls zu systematischen Vergewaltigungen von Musliminnen.

Wie sehr sexuelle Übergriffe mittlerweile auch als Waffe dienen, zeigte der Fall der Dorfschullehrerin Soni Sori im Bundesstaat Chhattisgarh. Sie wurde im Oktober 2011 der Kooperation mit der maoistischen Guerilla der NaxalitInnen bezichtigt, festgenommen, nach Delhi verfrachtet und vom zuständigen Polizeichef schwer misshandelt. Soni Sori, für deren Freilassung Amnesty International noch immer kämpft, ist eine Adivasi – der Polizist wurde im Januar 2012 für seinen Einsatz gegen die Aufständischen mit einer Tapferkeitsmedaille belohnt.

Es geht um Macht

Warum wird jetzt so viel Aufhebens gemacht? Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen trug sich der Mord in der Hauptstadt zu. Dann häufen sich die bekannt gewordenen Fälle von Vergewaltigungen in einem Ausmass, das vor allem die Mittelschicht bestürzt: Von 1990 bis 2011 stieg die Zahl der registrierten Vergewaltigungen um 240 Prozent – zum Teil, weil sie besser erfasst werden, zum Teil, weil sexuelle Übergriffe auch ausserhalb der Familie zunehmen, da sich die Frauen dank besserer Ausbildung und beruflicher Qualifikation stärker in der Öffentlichkeit bewegen. Nicht zu unterschätzen ist aber auch, dass bei der Gruppenvergewaltigung von Delhi das Opfer der Mittelschicht angehörte, die sechs Täter aber aus der Unterschicht kommen.

Das war bisher anders. «Männer vergewaltigen nicht für Sex oder Vergnügen. Sie tun es, um ihre Machtansprüche durchzusetzen», schreibt etwa das «Sanhati Journal», eine Monatszeitschrift in Kalkutta. «Es geht nicht nur um die Macht der Männer über Frauen, sondern um die der Männer hoher Kasten über die Dalitfrauen, der Unternehmer über die Fabrikarbeiterin oder das Dienstmädchen, der Landbesitzer über die Landarbeiterin und die des Staates über Abweichlerinnen.»

Und nicht zuletzt spielten bei den Protesten der vergangenen Wochen auch die in Indien mittlerweile verbreiteten sozialen Medien eine Rolle. Als eine Studentin mit anderen junge Demonstrantinnen in einen Polizeiwagen geworfen und weggeschafft wurde, erreichte die von ihr getwitterte Meldung binnen Minuten 200.000 Menschen. Die Medien reagierten sofort, AktivistInnen strömten zur Polizeiwache, AnwältInnen boten ihre Dienste an, Prominente verurteilten die Polizeiaktion. Die Behörden hatten keine Chance. Auf dem Land ist das nicht so einfach.

Der Überlegenheitskomplex

Inzwischen wird heftig darüber diskutiert, was zu tun wäre. Schärfere Gesetze nützen wenig. Wenn Gesetze in Indien Probleme lösen könnten, gäbe es keine Kinderarbeit, keine Mitgiftforderungen, keine vorgeburtliche Geschlechtswahl und keine Diskriminierung niederer Kasten. All das ist verboten. Die Frage ist eher: Wer setzt die Verbote durch? Eine parteiische Regierung oder Politiker, denen selbst sexuelle Gewalt oder Ausbeutung von Frauen vorgeworfen wird?

Viel hängt davon ab, dass der Gesellschaft die allgegenwärtige Repression der Frau in Beziehungen, in der Familie und der Gemeinschaft gewahr wird, dass Sexualität als etwas Normales gilt und das Tabu, dem sie unterliegt, gebrochen wird. Dazu gehört Aufklärung in der Familie und der Schule. Noch immer wachsen männliche Jugendliche in Indien mit einem Überlegenheitsgefühl auf, das in allen Institutionen und Strukturen zum Vorschein kommt, die von ihnen ständig den Nachweis ihrer Maskulinität verlangen. Die sechs Männer, die jetzt die Studentin in einem Privatbus vergewaltigten, kamen aus ganz gewöhnlichen, armen Familien auf dem Land. Sie fanden sich in einer Grossstadt wieder, deren Leben ihnen fremd war, und versicherten sich jetzt ihrer vermeintlichen Überlegenheit auf besonders barbarische Weise. Gefördert wird diese Haltung zudem durch eine Kultur, deren Tradition auf Mythen beruht, in denen nur Männer eine Rolle spielen.

All das müsste sich ändern. Nötig ist vor allem eine andere, offenere Erziehung: Man kann nur dann mit etwas sorgsam und verantwortlich umgehen, wenn man es begriffen hat. Von der Politik ist da wenig zu erwarten, das muss die Gesellschaft schon selbst tun. Vielleicht bewirken ja die Proteste zumindest bei der Mittelschicht im Land ein Umdenken. Ohne tief greifenden sozialen und politischen Wandel bleibt das aber eine Illusion.