Indien: Kommt jetzt der 29. Bundesstaat?
Die Suche nach einem neuen Staat
13. Dezember 2012 | Im Bundesstaat Andhra Pradesh kämpft seit Jahrzehnten die Bevölkerung von Telangana für einen eigenen Bundesstaat. Aber was bringt eine Abspaltung den kleinen Leuten?
Text: Joseph Keve, Warangal, Übersetzung: Pit Wuhrer
«Es gibt hier zwei völlig verschiedene Kulturen: Eine dominante, stolze, vorurteilsbeladene, und eine der Demut, der Unterwerfung und der Angst. Und diese beiden passen nie und nimmer zusammen, sie können nicht friedlich in einem Staat leben!» Vishvanadham Kasibhatla laufen die Tränen über die Wangen, so empört ist er. «Der neue Staat Telangana ist zwingend notwendig.» Kasibhatla ist 87 Jahre alt, war früher Arzt und hat schon vieles erlebt: «Ich erinnere mich noch gut an die Ausgangssperren Anfang der fünfziger Jahre, an die Polizeieinsätze damals und an die Menschen, die dabei starben.» An einem einzigen Tag hätten sie ihm, damals Oberarzt am Osmania-Spital in Hyderabad, neun Leichen in die Abteilung gebracht. «Ich bin zwar in Andhra aufgewachsen, habe aber mein ganzes Leben hier in Telangana verbracht und die Menschen hier lieben gelernt. Ich spüre ihren Schmerz, ihre Qual, ihre Hilflosigkeit. Das muss ein Ende haben.»
Warangal, wo Vishvanadham Kasibhatla heute lebt, ist mit über 600.000 EinwohnerInnen die fünftgrösste Stadt im indischen Bundesstaat Andhra Pradesh. Sie liegt rund 150 Kilometer nordöstlich der Staatshauptstadt Hyderabad in einer heissen und wasserarmen Region, deren Geschichte von den Entbehrungen und Kämpfen jener Gemeinschaften geprägt ist, die dies hier ihr Zuhause nennen. Dynastien kamen und gingen, und viele aus anderen Regionen des Bundesstaats und ganz Indien sind hier wohlhabend geworden, nur die Menschen von Telangana nicht, schon gar nicht die Angehörigen der niederen Kasten und der Stammesbevölkerung.
Gerade sie hoffen auf einen neuen unhängigen Bundesstaat Telangana, als hinge ihre Existenz davon ab. Und je nachdem, ob du ihren Wunsch (vielleicht auch ihre Schimäre) unterstützt oder kritisierst, bist du Freund oder Feind. In Telangana, das hat sich auf meiner Reise gezeigt, akzeptieren sie keine Grautöne, nur Schwarz und Weiss. In den Teeläden, den Hinterhöfen, selbst in den Tempeln gibt es kein anderes Thema, überall kochen die Emotionen hoch. «Abgesehen von ein paar Polizeioffizieren und Bürokraten aus Andhra sind alle für Telangana – Lehrer und Studenten, Bauern und Arbeiter, soziale Aktivisten und Gewerkschafter», sagt Shridhsyam Venugopal, «die Andhraiten haben uns das fruchtbare Land weggenommen, sie monopolisieren das Wasser unserer Flüsse und schnappen sich unsere Jobs.» Der 36-jährige Sekretär einer nichtstaatlichen Organisation (NGO) hat, wie er selber sagt, die Nase voll. «Wir zahlen Steuern, bekommen aber kaum Unterstützung; sie nehmen unser Geld und stecken es in Fabriken in Andhra.» Und so hätten die Menschen hier nur noch «einen Wunsch, einen Traum, eine Vision: unser Telangana».
Rama Demi ist Präsidentin der Frauenorganisation Priyadarshini Mahila Mandal, die vor allem mit der Urbevölkerung arbeitet. «Wir geben uns mit der Ausbildung von Jugendlichen viel Mühe, aber für sie gibt hier kaum Jobs», sagt die 47-Jährige in ihrem Büro in Warangal. «Den besten Boden haben Grossgrundbesitzer aus Andhra, die auch noch als Geldverleiher verdienen.» Die Frauen seien überzeugt, dass sich ihr Los nur in einem freien Telangana bessere.
So denken viele, mit denen ich gesprochen habe. Gebt uns Telangana, dann lösen sich alle Probleme, lautet ihre Parole. Nur wenige sehen die Dinge etwas differenzierter. «Die Jungen, vor allem die Studenten, sind ungeduldig», sagt etwa der Anwalt Vanam Balaraju, «das sind die, die Selbstmord begehen». Laut Angaben der BefürworterInnen eines selbständigen Telanganas sollen sich in den drei Jahren 700 Jugendliche umgebracht haben; im März 2012 töteten sich innerhalb einer Woche drei junge Menschen, der vorläufig letzte Selbstmörder – ein Student – zündete sich Anfang November an. Die Älteren hingegen, so Balaraju, würden sich schon auch fragen, ob man den Politikern trauen könne, wer den neuen Staat überhaupt führen wolle und welche Strukturen aufgebaut werden müssten. «Zwischen den Generationen gibt es eine Kluft», sagt Balaraju. Die Umstehenden murren allerdings, ihnen passen seine Äusserungen nicht.
«Die haben das nicht verdient»
Während es in Warangal genügend Menschen zu geben scheint, die für einen neuen Staat Telangana sterben würden, ist die Mehrheit der Bevölkerung von Hyderabad entschieden gegen eine Spaltung. «Womit haben die Telanganas eine Sonderbehandlung verdient? Alles ist doch von Menschen aus Andhra aufgebaut worden – die Industrie, die Stromnetze, Telefonleitungen und Strassen, selbst die Landwirtschaft.» Joseph Kagava glaubt nicht an ein überlebensfähiges Telangana. «Die haben es doch nur auf Hyderabad abgesehen», sagt der 71-jährige frühere Experte der indischen Zentralbank, der auch eine Weltbankkommission leitete, «die wollen den Wohlstand der Stadt, den sie nicht erarbeitet haben, ihre Dienstleistungen, ihre Infrastruktur.» Die Telanganas sollten endlich verschwinden, sagt er.
Shilpa Surendar lacht über die Idee eines unabhängigen Staates. «Wieso glauben die Befürworter eigentlich, dass sie in einem eigenständigen Telangana ein bessere Zukunft haben», fragt die Neunzehnjährige, die sich gerade auf ein Examen im indischen Verwaltungsdienst vorbereitet. «Deren Politiker nutzen doch nur die Telangana-Welle», glaubt sie. Überhaupt seien die angeblichen Selbstmorde von Unabhängigkeitsbefürwortern in Wirklichkeit Morde gewesen: «Man hat den unglückseligen Jugendlichen etwas Geld gegeben, sie dann mit benzingetränkten Kleidern vor eine rasende Menge gezerrt und dort angezündet.» Aber auch diese unruhige Phase wird vorübergehen, sagt die Absolventin der Osmania University in Hyderabad: «Den neuen Staat Telangana wird es nie geben.»
Der Fahrer Mohammed Ansari hingegen hält sich zurück; er schlägt sich auf keine Seite. «Das sind doch politische Spielchen», sagt er. «Die Reichen werden auch weiterhin reicher werden, das Leben von Leuten wie ich wird sich kaum ändern, egal, ob Telangana selbständig wird oder nicht.» Er fürchtet vor allem die Gewalt, die von der einen oder anderen Seite ausgehen könnte: «Denn dann verlieren wir das wenige, das wir haben, dann werden meine Kinder hungern.»
Der lange Konflikt
Zur Zeit der Unabhängigkeit 1947 gab es in Indien 562 Königreiche und Prinzenstaaten, die von indischen HerrscherInnen regiert wurden, und 11 Territorien, die die britische Kolonialverwaltung kontrollierte. Im Dezember 1953 setzte der damalige Ministerpräsident Jawaharlal Nehru eine Staatliche Reorganisationskommission (SRC) ein, die einen Entwurf für eine Neugliederung der Bundesstaaten entlang Sprachgrenzen vorlegen sollte. Ihre Empfehlung erlangte im August 1956 Gesetzeskraft. Auf dieser Basis entstand im November 1956 der Bundesstaat Andhra Pradesh, der die nördlichen, telugusprachigen Regionen der früheren Präsidentschaft Madras (einst eine Verwaltungseinheit der Britischen Ostindien-Kompagnie) mit Telangana (einem Teil des ehemaligen Fürstenstaats Hyderabad) vereint.
Der Kommission war durchaus bewusst, dass es in der Bevölkerung von Telangana grosse Vorbehalte gegen die Vereinigung gab: Diese fürchtete die Dominanz der sozial und ökonomisch stärker entwickelten Gebiete von Andhra. «Wichtige Meinungsführer», so der SRC-Bericht, würden die Skepsis teilen. Und so empfahl die Kommission, dass der Zusammenschluss «auf Basis einer freiwilligen Assoziation», also nur mit Zustimmung der Menschen in Telangana, erfolgen sollte. Doch die Zentralregierung ignorierte die Empfehlung.
Stattdessen arrangierte sie einen Kompromiss: Zumindest während der ersten fünf Jahre sollte das Staatsbudget entsprechend den Einkünften der Regionen aufgeteilt werden. Das Bildungswesen in Telangana, so die Idee, werde ausgebaut und für einheimische StudentInnen reserviert. Urdu (die Sprache der muslimischen Minderheit in Telangana) bleibe eine Amtssprache. Die Stellen im öffentlichen Dienst würden je nach Bevölkerungsanteil vergebenn, und auch die Regierungsämter seien proportional aufzuteilen, hiess es damals: Wenn der Chiefminister aus Andhra kommt, müsse der stellvertretende Regionalpremier aus Telangana stammen (oder umgekehrt).
Doch es blieb bei Versprechungen. Das Amt des Vizepremiers wurde nie besetzt, in der öffentlichen Verwaltung dominierten die Angestellten aus Andhra und auch im Bildungsbereich klagten die TelanganesInnen über Diskriminierung. Und so kam es Anfang 1969 zu den ersten Demonstrationen. Oppositionelle Abgeordnete des Regionalparlaments drohten mit «direkten Aktionen» zur Unterstützung der protestierenden StudentInnen und des Lehrpersonals. Darauf folgten ein paar verbale Zugeständnisse, die jedoch nicht genügten. Kurz danach blockierten Tausende die Strassen, stoppten den Schienenverkehr und griffen Verwaltungsgebäude an. Die Polizei erschoss 23 DemonstrantInnen, das öffentliche Leben stand still, Examen wurden abgesagt, Schulen und Büros geschlossen.
Fortwährende Spaltungen
Wie konnte es zu dieser Eskalation kommen? Und was sind die Ursachen für die seit bald sechzig Jahren vehement vorgetragene Forderung nach einem eigenständigen Bundesstaat?
Zum einen ist da die anhaltende Spaltungstendenz im ganzen Land. Bis 1967 gab es in Indien 14 Bundesstaaten (und 7 Unionsterritorien), heute sind es 28 Bundesstaaten. Die Zunahme erfolgte im wesentlichen in zwei Wellen. Von 1972 bis 1987 erhielten im unruhigen Nordosten eine Reihe von Regionen den Status eines Bundesstaats zugesprochen: Arunchal Pradesh, Meghalaya, Tripura, Manipur und Mizoram. Im Jahre 2000 folgte dann die Neugründung von gleich drei Bundesstaaten: Jharkhand im Osten (zuvor Bestandteil des Bundesstaats Bihar), Chhattisgarh in der Mitte (vormals Madhya Pradesh) und Uttarakhand im Norden (bis dahin Teil von Uttar Pradesh). Für all diese Abspaltungen waren ähnliche Gründe ausschlaggebend: Grosse, ethnisch oft homogene Bevölkerungsgruppen forderten in ihren ökonomisch unterentwickelten, vom Staat vernachlässigten Regionen mehr Selbständigkeit, weil sie sich marginalisiert und ausgenutzt fühlten – und sich von mehr Autonomie eine bessere Zukunft versprachen. Zudem nutzen auch regionale Parteien diese sezessionistischen Bestrebungen zur Durchsetzung ihrer Machtansprüche.
Die föderale Struktur Indiens ist also seit langem in Bewegung. Und ein Ende ist nicht absehbar. Derzeit verlangt nicht nur eine breite Bewegung in Telagana die Eigenständigkeit. Es gibt ähnliche Tendenzen auch in Vidarbha (Bundestaat Maharashtra), Gorkhaland (Westbengalen), Bundelkhand (Madhya Pradesh), Coorg (Karnataka), Saurashtra (Gujarat) oder Mithalanchal (Bihar).
Zurück aufs Dorf
Zum Zweiten war die Revolte von 1969 nicht der erste Aufstand der Massen in Telangana gewesen. Schon während der Regentschaft des Geschlechts der Nizams (Telangana unterlag nie der direkten Verwaltung des Britischen Empires) hatte es immer Aufstände der Kleinbauern und Landarbeiterinnen gegeben, die sich gegen die vorherrschenden Zwangsarbeitsverhältnisse wehrten. 1946 zum Beispiel rebellierten sie gegen den Fürsten und dessen Steuereintreiber. Unter Führung der Kommunistischen Partei Indiens (CPI) richteten sie in 3000 Dörfern selbstverwaltete Zonen ein, zu denen weder die Steuereintreiber noch die Grossgrundbesitzer einen Zugang hatten, deren Land konfisziert worden war.
«Sie führten einen Mindestlohn ein, die Wälder konnten wieder von den Tribals [den Nachfahren der Urbevölkerung, pw.] genutzt werden und zwölf bis achtzehn Monate lang kontrollierten Dorfkomitees die Verwaltung», schrieb der damalige regionale CPI-Vorsitzende Puchalapalli Sundarayya (noch heute bekannt unter dem Namen «Genosse PS»), in seinem Buch «Telangana People's Struggle and its Lessons». Rund zehntausend DorfbewohnerInnen seien der Miliz beigetreten, die als Guerilla die Angriffe die Polizeistreitmacht des Fürsten abwehrte. Und zum ersten Mal in ihrem Leben hätten seinerzeit Hunderttausende zwei Mahlzeiten am Tag gehabt. Doch dann, im September 1948 (der Aufstand griff immer weiter um sich), erteilte die indische Zentralregierung unter Vorsitz von Nehru der Armee einen Einsatzbefehl; im Herbst 1951 war der Aufstand niedergeschlagen.
Von dieser Geschichte der befreiten Zonen wissen heute noch viele in Telangana, wenn auch nur vom Hörensagen. Sie wurde auch von den rebellierenden StudentInnen Ende der sechziger Jahre aufgegriffen, die sich politisch radikalisierten. Ein kleiner Teil der Landjugend hatte seinerzeit aufgrund der Ausweitung des Bildungssektors und dank staatlicher Stipendien für Angehörige der niederen Kasten und der Stammesbevölkerung eine höhere Ausbildung absolvieren können. Die StudentInnen vergassen nicht, woher sie gekommen waren. Die Radical Students Union und die Radical Youth League lancierten die Kampagne «Go to Villages», und so kehrten viele in die Dörfer zurück, wo sie die ländliche Kultur wiederzubeleben versuchten, Kampagnen organisieren und in Hunderten von Weilern Rytu Coolie Sanghams gründeten – Gruppierungen von Landlosen, die ihre Forderungen koordiniert erhoben. Die Aktionen der Studierenden kulminierten 1978 in einem grossen Marsch, an dem sich 30000 DorfbewohnerInnen aus 150 Orten beteiligten. Es war ein Wendepunkt in der Geschichte der LandarbeiterInnen-Bewegung von Telangana.
Politischer Spielball
Welche Rolle spielten dabei die Parteien? Die indische Kongresspartei unternahm alles, um ein selbständiges Telangana zu verhindern. 1951 schlugen Nehrus Truppen der LandarbeiterInnenerhebung nieder, danach torpedierte die Partei die Empfehlungen der SRC. 2004 nahm die Kongresspartei zwar die Selbständigkeit für Telangana in ihr Parteiprogramm auf, Ende 2009 sprach der damalige Innenminister Palanlappan Chidambaran sogar von einer bevorstehenden Aufteilung von Andhra Pradesh, doch zwei Wochen später krebste er wieder zurück: Eine neuer Staat Telangana setze natürlich das Einverständnis aller beteiligten Parteien voraus, sagte er – wohl wissend, dass es dazu nie kommen würde.
Auch die hindu-nationalistische Volkspartei BJP instrumentalisiert das Thema nur in Wahlkämpfen. 1997 versprach sie ein separates Telangana, sollte sie an die Regierung kommen. 1999 gewann sie in Neu-Delhi die Macht, doch nichts geschah: In Andhra Pradesh spielte die BJP politisch nie eine Rolle. Auch die regionale Partei Telangana Rashtra Samiti von Chandrasekhar Rao hatte nicht nur die Selbständigkeit im Sinn. «Für sie war Telangana nur ein Vehikel, um an die Pfründe zu kommen», sagt Chandrababu Naidu, Vorsitzender der Telugu Desam Party, die im ganzen Bundesstaat politisiert; Raos halbe Familie sei inzwischen im Parlament vertreten.
Die Konsensbedingung, die Chidambaran Ende 2009 formulierte, löste in Telangana neue Unruhen aus. Es kam zu Massenkundgebungen, Hungerstreiks, Selbstverbrennungen. Anfang Februar 2010 bildeten Hunderttausende eine 500 Kilometer lange Menschenkette. Und am Tag darauf setze die Regierung erneut eine Kommission ein. Diese kam Ende 2010 zum Schluss, dass eine Selbständigkeit aus mehreren Gründen nicht ratsam sei: Ein eigenständiges Telangana könne als Binnenstaat ökonomisch kaum überleben (da es keinen Hafen und keinen Zugang zu den vor der Küste vermuteten Öl- und Gasvorräten habe), es stelle ein Sicherheitsrisiko dar (weil sich dort dann die maoistische Guerrilla der Naxaliten ausbreiten könne) und würde andere Regionen zur Nachahmung ermuntern.
Auch diese Entscheidung löste Proteste aus: Im Februar 2011 legten 300.000 telaganesische Staatsangestellte die Arbeit nieder, mehrere Abgeordnete traten zurück, die Sitzungen des Parlaments wurden blockiert, im März marschierten trotz eines grossen Polizeiaufgebots Hunderttausend in die Hauptstadt Hyderabad und kippten eine Vielzahl von Statuen vom Sockel.
Dass es seither etwas ruhiger geworden ist, liegt zum Teil auch an der Zerrissenheit der Opposition. So mehren sich die Anzeichen, dass im Gemeinsamen Aktionskomitee der Einfluss der BJP wächst. Ihre sektiererische Politik hat viele verschreckt, vor allem die Dalits («Unberührbare») und die MuslimInnen, die zusammen rund vierzig Prozent der Bevölkerung stellen und sich bisher für die Autonomie stark gemacht hatten. «Für Muslime ist die Vorstellung, weiter in einem Bundesstaat Andhra Pradesh leben zu müssen, schrecklich», sagt Lateef Mohammad Khan, Vorsitzender des Muslim Forums for Telangana. «Noch schrecklicher aber wäre es, in einem von hindu-sektiererischen Kräften kontrollierten Telangana zu leben». In den letzten Monaten kam es in Hyderabad immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen, die von BJP-Banden angezettelt wurden. Auch an der Osmania University nehmen die Spannungen zu.
Zudem wurde vielen in letzter Zeit klar, dass die Führer der Pro- und Kontrafraktionen manches gemein haben: Sie gehören fast ausschliesslich hohen Kasten an und verfolgen ähnliche Interessen. Die einen, weil sie sich durch die Selbständigkeit noch mehr Macht und Einfluss erhoffen; die anderen, weil sie auch weiterhin die billigen Arbeitskräfte in Telangana nutzen wollen und im bestehenden grösseren Staat von den Zuschüssen aus Neu-Delhi profitieren.
Es gibt freilich auch unabhängige Kräfte, die einen Ausweg suchen. Samajik Telangana (Soziales Telangana) zum Beispiel ist eine Gruppe von Intellektuellen, die Debatten organisiert und eine kritische Position vertritt. «Solange die Frage der Demokratie in den Diskussionen keine Rolle spielt, wird sich für die Bevölkerung von Telangana nichts ändern», sagt S. Simradi, Geografieprofessor an der Osmania University. «Allen Parteien, ob Kongress, BJP oder Telangana Rashtra Samiti, geht es doch nur um die politische Macht. Dabei gehören 94 Prozent der Bevölkerung den marginalisierten, benachteiligten und unterdrückten Gruppen und Kasten an.» Und für diese würde sich unter den gegenwärtigen Vorzeichen nichts ändern: «Ihre soziale, wirtschaftliche, kulturelle und politische Not verschwindet mit der Ausrufung eines neuen Staats nicht.» Doch so denken momentan nur wenige.