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Indien: Richtungsentscheid in Kerala

Ein 87-Jähriger mit viel Biss

7. April 2011 | Im traditionell linken Bundesstaat Kerala könnte am kommenden Mittwoch ein ehernes Gesetz fallen das des permanenten Regierungswechsels. Doch die KommunistInnen tun sich schwer.

Von Joseph Keve, Ernakulam, Übersetzung: Pit Wuhrer

Dieses Mal, sagt Chandran Pillai, «werden wir die Regel brechen, dieses Mal entkommen wir dem Fluch». Wenn sich da der Gewerkschafter nicht zu früh freut. Denn die Regel, die Pillai durchbrechen möchte, gilt seit über fünfzig Jahren: Noch nie hat im südindischen Bundesstaat Kerala eine Partei oder ein Parteienbündnis die Wiederwahl geschafft; stets mussten die Regierenden der Opposition weichen, die sich dann wiederum nur eine Legislaturperiode im Amt halten konnte.

Ein solcher Wechsel könnte nun der Linksdemokratischen Front (LDF) unter Führung der Kommunistischen Partei Indiens /Marxisten (CPIM) blühen, die 2006 die damals regierende Vereinigte Demokratische Front (UDF) mit 98 zu 42 Sitzen besiegt hatte. Denn bei den nationalen Wahlen 2009 nahm das von der Kongresspartei dominierte UDF-Bündnis der Linken gleich reihenweise Mandate ab, und auch bei den Kommunalwahlen 2010 büsste die LDF viele Stimmen ein.

Und doch ist das politisch oft turbulente Kerala immer wieder für eine Überraschung gut. Das war etwa 1957 so, als die Bevölkerung dieses gerade gebildeten Bundesstaats zum ersten Mal in der Geschichte des bürgerlichen Parlamentarismus eine kommunistische Regionalregierung wählte, die Landreformen, Mindestlöhne, ein Sozialprogramm und eine Dezentralisierung der Machstrukturen durchsetzte – und zwei Jahre später von der Zentralregierung in Neu-Delhi abgesetzt wurde. Einige Jahre danach – die CPIM war erneut gewählt worden - wiederholte sich das Prozedere mit der Folge, dass Keralas KommunistInnen ihren Schneid verloren, ihre revolutionären Visionen weichspülten, sich den bürgerlichen Parteien annäherten und eher mit sich selbst und ihrem Auskommen beschäftigt waren als mit der Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse.

Keralas Fortschritte

Vielleicht ist es diesem Umstand zuzuschreiben, dass das CPIM-Politbüro vor der Wahl 2006 einen Mann ins Abseits schieben wollte, der in Kerala seit Jahrzehnten eine wichtige Rolle spielt: den mittlerweile 87 Jahre alten Velikakathu Sankaran Achuthanandan, den alle nur als Genossen V. S. kennen. Prinzipientreu und basisnah, kritisierte der Veteran immer wieder die eigene Partei: ihre Verfilzung mit den lokal Mächtigen, ihre Tatenlosigkeit bei der illegalen Übernahme von Staatsland durch PrivatunternehmerInnen, ihre Toleranz gegenüber ökologischen und sozialen Verwüstungen. Erst eine Revolte der CPIM-Basis sorgte dafür, dass Genosse V. S. als Spitzenkandidat antreten konnte - und haushoch gewann.

Sein Einfluss als Keralas Chefminister blieb zwar innerhalb der Partei nominell beschränkt, sein Kampfgeist aber hat darunter nicht gelitten: Noch immer geisselt Achuthanandan – egal, was das Zentralkomitee denkt und beschliesst – die Korruption hochrangiger GenossInnen, die Machenschaften mafiöser Wettgemeinschaften oder Keralas Geldanleihen bei der Asian Development Bank, die seines Erachtens den Staat in die Abhängigkeit führen. Dennoch legte die CPIM in den letzten Jahren eine beachtliche Show hin. In Kerala gibt es inzwischen mehr Sozialprogramme als in den anderen indischen Bundesstaaten, in den vergangenen fünf Jahren verdreifachten sich die Renten der Arbeiter im informellen Sektor, in der Privatwirtschaft tätige Arbeiterinnen haben nun immerhin Anspruch auf einen einmonatigen Mutterschaftsurlaub, die Hälfte der Bevölkerung darf subventionierten Reis beziehen und muss keine Krankenversicherung bezahlen, «Fair Price Shops» verkaufen Lebensmittel zu günstigen Preisen. Und dann hat die LDF-Koalition – im Unterschied zur Zentralregierung mit ihrer neoliberalen Politik – auch noch den Service public gestärkt, die öffentliche Versorgung ausgebaut und in der Landwirtschaft eine Beschäftigungsgarantie eingeführt. In keinem anderen Bundesstaat begehen so wenig Bauern Selbstmord, ist die Analphabetenquote so niedrig, werden die Minderheiten so sehr geschützt und achten die Behörden derart auf die Trennung von Religion und Staat.

Die religiöse Karte

Und das soll so weitergehen. «Wir streben eine egalitäre Gesellschaft ohne Kapitalisten an», sagt beispielsweise Thomas Isaac, der Finanzminister von Kerala. Er plant eine direkte Beteiligung der Bevölkerung an den Haushaltsdebatten, eine Anhebung der Frauenquote in allen Institutionen auf fünfzig Prozent und einen Stopp der Kommerzialisierung des Bildungswesens. Gerade dies aber hat die katholische Kirche auf den Plan gerufen, die eine ganze Reihe von Colleges betreibt. Die kirchlichen Würdenträger – die ChristInnen machen in Kerala rund ein Fünftel der Bevölkerung aus – verteidigen mit nicht immer zimperlichen Methoden ihre institutionellen Interessen und brandmarken die Pläne der Regierung als «Angriff auf die christliche Minderheit». In Pfarrbriefen und Predigten warnen sie ihre Gemeindemitglieder vor einer Stimmabgabe für die «atheistischen» Regierungsparteien. Und jetzt haben sie sogar eine eigene Partei gegründet – die Christdemokratische Union (CDU).

Zwar gibt es mittlerweile auch religiöse Parteien für die Muslime (Bevölkerungsanteil: rund 25 Prozent) und die Hindus (etwa 55 Prozent) – aber niemand führt derzeit eine so erbitterte Kampagne gegen die Linke wie der katholische Klerus.

Die Linksdemokratische Front hat es – und das ist neu – gleich mit mehreren GegnerInnen zu tun. Da sind zum einen die religiösen Gruppierungen (seit einigen Jahren versuchen militant-hinduistische Organisationen wie der Welthindurat VHP ihren Einfluss auszuweiten). Das Bürgertum macht ebenfalls mobil und setzt auf die UDF – obwohl diese Allianz zumindest in ihren Wahlversprechen die LDF zu übertrumpfen versucht: noch billigerer Reis für die Armen, günstige Agrarkredite, Gratisvelos für Studierende, zinslose Ausbildungskredite, Stromversorgung für alle und 3,6 Millionen neue Arbeitsplätze für jugendliche Arbeitslose. Doch vor allem steht sich die LDF selbst im Weg.

Genosse V. S. und die Hoffnung

Denn wieder versuchten CPIM-Kader, den Genossen V. S. und andere visionäre Linke wie Thomas Isaac auszubooten. Seit 2006 blockierten interne Fehden die Regierungspolitik. Erst als eine Niederlage unabwendbar schien, bestimmte das LDF-Bündnis den immer noch höchst agilen Chefminister zum zweiten Mal zu seinem Spitzenkandidaten. Inzwischen ist nicht mehr ausgeschlossen, dass ihm die Wende gelingen könnte. Denn der moralisch integre Achuthanandan ist so ziemlich das Gegenteil des machtbesessenen und nur auf den eigenen Vorteil bedachten Politikertyps, der auch die Kongresspartei dominiert. Und die hat auf nationaler Ebene zuletzt mit einer Vielzahl von Korruptions- und Sexskandalen von sich reden gemacht.

Entscheidend aber ist, was die Jungen denken. Rund ein Drittel aller Wahlberechtigten ist unter dreissig Jahre alt. «Es gibt doch kaum noch Politiker mit einer Vision für das Land», sagt beispielsweise der 24-jährige Softwareingenieur Sahiba Salauddin in Cochin. «Wenn man denen sagt, dass sie auch mal über ihren Tellerrand hinausdenken sollen, setzen sie Schläger auf dich an.» Sollte Genosse V. S. noch einmal die Wahl gewinnen, bleiben dem Linksbündnis höchstens fünf Jahre, um dieses Bild zu korrigieren.

PS: Zum Ergebnis der Wahl in Kerala: vgl. den Text «Vom Koma in den Aufwachraum», 21. Juni 2012