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Indien: Rebellion und Religion

Auf kleinerer Flamme

18. März 2010 | Die Befreiungstheologie hat das Land verändert. Und noch immer finden sich neue AnhängerInnen – sogar im Kirchenestablishment.

Text: Joseph Keve, Übersetzung: Pit Wuhrer

Es war eine illustre Schar, die sich Ende vorletzter Woche in der südindischen Metropole Chennai von der Polizei umzingelt sah: zwei Erzbischöfe, ein Bischof und Hunderte von Priestern und Nonnen. Fast 600 Kilometer waren sie von Kanyakumar an der Südspitze Indiens in die Hauptstadt des Bundesstaates Tamil Nadu marschiert, um den Chefminister zu treffen. Sie trugen Banner mit Aufrufen wie «Wir verlangen unsere legitimen demokratischen Rechte» und verhielten sich friedlich. Sie sollen Ruhe und Ordnung gestört haben.

Mit ihrem langen Marsch hatten die ChristInnen auf die Lage der Dalits (einst «Unberührbare» genannt) aufmerksam gemacht, die mittlerweile einen Grossteil der christlichen Gemeinschaft Indiens ausmachen. «Indiens Arme leben immer noch in erbärmlichen Verhältnissen», sagte Bischof Anthonisamy Neethinathan, als die Demonstration durch Chennai zog, «wir brauchen eine zweite Freiheitsbewegung, die kann nur aus der Befreiungstheologie kommen.» In den letzten Jahrzehnten waren viele Dalits zum Christentum übergetreten, um dem Hindukastenwesen zu entkommen; durch ihren Übertritt aber verloren sie all die Rechte, die der Staat den untersten Gesellschaftsgruppen gewährt.

In derselben Woche hatte sich 2700 Kilometer weiter nördlich im Bundesstaat Assam die bisher eher konservative allindische Bischofskonferenz getroffen. Ergebnis des Konklaves war ein historisches Dokument: Zum ersten Mal sprach sich die katholische Hierarchie für Gender Justice, für Geschlechtergerechtigkeit, aus. «Die Kirchenführer müssen endlich die Würde der Frau respektieren und ihre Gleichberechtigung in allen Gremien akzeptieren», sagte Mani Malkunnel, Sekretär der Conference of Religious India (CRI). Er organisiert Workshops über die Befreiungstheologie.

Ganz im Westen, im Bombayer Stadtteil Malad, ist man schon ein Stück weiter. Dort betreibt die katholische Laiengruppe Voice of the Exploited (Vote), die «Stimme der Ausgebeuteten», ein soziales Aktionszentrum, das für Bürgerrechte kämpft. Die Vote-Mitglieder, die sich wöchentlich im staubigen Hof der Kirche von Orlem treffen, begleiten AnalphabetInnen auf Ämter, informieren die Armen über ihre Rechte, unterstützen SlumbewohnerInnen bei ihrer Selbstorganisation und versteckten während der Hindupogrome der letzten Jahrzehnte MuslimInnen in ihren Häusern. «Durch die Befreiungstheologie sind wir uns unserer Rechte bewusst geworden», sagt Vote-Mitbegründer Dolphy D'Souza, der bei der letzten Parlamentswahl als Unabhängiger kandidierte. «Jetzt müssen wir Bewusstsein in politische Stärke verwandeln.»

Belästige die Reichen!

Lange hatten in Indien (wie in vielen Teilen der Welt) KatholikInnen «Jesus meek and mild, make us as yourself» gebetet – sanftmütiger Jesus, mach uns wie du. Das änderte sich Ende der sechziger Jahre, als Studentinnen und Gewerkschafter die wachsende Armut im Land wahrzunehmen begannen und – beeinflusst von der lateinamerikanischen Befreiungstheologie – marginalisierte Gruppen wie die Urbevölkerung, die Dalits und die SlumbewohnerInnen mobilisierten. An den Unis entstand die All India Catholic University Federation (AICUF), die Seminare über «Social Action» organisierte und deren Mitglieder (zwischen 1973 und 1976 waren es rund 40 000) in die Armenviertel ausschwärmten. «Comfort the Disturbed and Disturb the Comfortable», stand damals auf vielen Postern – tröste die Beunruhigten und belästige die Wohlhabenden. Der Ausnahmezustand 1975 bis 1977, den Indira Gandhi verhängt hatte, stoppte die Bewegung; viele gingen in den Untergrund, manche flohen ins Ausland. In den folgenden zwei Jahrzehnten entwickelte sich die Bewegung wieder: «Bewusstseinswerdung», «Mobilisierung», «Ermächtigung» waren die Schlagworte einer neuen Generation in Gewerkschaften, Frauenorganisationen, politischen Parteien.

Die Fehler der Bewegung

Mittlerweile brennt das Feuer nicht mehr so stark. Manches hat sich verbessert, die Grundübel sind geblieben. Viele AktivistInnen waren ausgebrannt, resignierten, gingen zu den Naxaliten oder suchen immer noch nach einem Mittelweg. Die Übriggeblieben, die ebenso aus der Mittelschicht kamen, erkannten erst spät, dass es nicht genügt, an ein paar Speichen herumzudrücken, wenn man das ganze Rad zum Rollen bringen will. Die AktivistInnen hatten zwei zentrale Aspekte der indischen Machtverhältnisse ignoriert - Religion und Politik. Sie hatten die Kirchenestablishments ebenso wenig herausgefordert wie die Parteiapparate. Und so kam es, dass die religiösen und politischen Instanzen des Landes weiterfunktionieren konnten – sie tolerierten den Dissens, integrierten (wie etwa die Kommunistischen Parteien) den Protest von unten und nahmen ihm die Spitze.

Und doch ist die Idee der sozialen Befreiung noch da. «Wir brauchen eine Dalit-Befreiungstheologie», sagte kürzlich James Massey, ein führender Theologe. «Jesus hat nicht, wie in unseren Kathedralen dargestellt, Seidenkleider und eine goldene Krone getragen. Er wurde in eine verzweifelt arme Familie geboren und kämpfte sein ganzes Arbeitsleben lang für die Befreiung der Unterdrückten», interpretiert der Priester die Bibel: «Er war ein Dalit wie wir.»

PS: Joseph Keve war in seiner Studentenzeit Vorsitzender der AICUF, musste während Gandhis Notstandsgesetzen aus Indien fliehen und ist immer noch Sozialaktivist.