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Indien: Klima, Hunger und die Politik

Erst Dürre, dann der große Regen

15. Oktober 2009 | Die indische Landbevölkerung durchlebt zurzeit ein klimatisches Desaster nach dem anderen, das Elend wächst. Welche Antworten gibt es darauf?

Text: Joseph Keve, Bombay, Übersetzung: Pit Wuhrer

«Die Regierung schickt Raketen Richtung Mond und feiert die Entdeckung von Wasser auf dem Trabanten», sagte vorletzte Woche Sandeep Patil, ein 36-jähriger Kleinbauer im indischen Bundesstaat Maharashtra, «und wir haben hier kein Wasser mehr, weder für die Tiere noch für uns.» Patil hat nur auf einem halben Hektar Reis pflanzen können, normalerweise nutzt er einen Hektar.

Der Grund: In seiner Region waren in den vergangenen Monaten nur sechzig Prozent der sonst üblichen Regenmenge niedergegangen. «So trocken und heiss war es noch nie im September», sagt er stöhnend, «wahrscheinlich muss ich sogar auf die Aussaat des Wintergemüses verzichten.» Patil befürchtet, dass ihm derzeit nicht einmal die Geldverleiher helfen können, die horrende Zinsen verlangen: Zu viele FarmerInnen hätten bei denen einen Notkredit beantragt.

Fluten statt Trockenheit

Bis Ende September hat es in Indien knapp dreissig Prozent weniger Niederschlag gegeben als im Jahresdurchschnitt; in 246 der 604 indischen Distrikte bedroht eine Dürre ungefähr 700 Millionen Menschen. Am meisten betroffen sind die ReisfarmerInnen: Aufgrund des erst spät einsetzenden und ungewöhnlich regenarmen Monsuns haben sie ein Drittel ihrer Reisfelder nicht bepflanzen können; ExpertInnen rechnen damit, dass Indien dieses Jahr rund eine Viertelmilliarde Tonnen Getreide einführen muss. Als Folge davon sind die Preise für Reis und Linsen so hoch wie nie; den 320 Millionen Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, steht ein Jahr der Entbehrungen und des Hungers bevor.

Schon jetzt häufen sich Meldungen über Notverkäufe von Land und Vieh; gemäss Zeitungsberichten sollen in einem Bundesstaat vereinzelt Bauern schon ihre Töchter verkaufen. Auf dem Land steigt die Selbstmordrate steil an. Die Behörden rechnen inzwischen mit einer drastischen Zunahme der Binnenmigration. So war es jedenfalls bis vor einer Woche. Seither hat sich in manchen Landesteilen die Lage dramatisch zugespitzt – allerdings unter völlig anderen Vorzeichen: Der Himmel hat die Schleusen geöffnet. Dauerregen, Gewitterstürme und Überschwemmungen halten rund ein Viertel von Indien fest im Griff. Im südlichen Bundesstaat Karnataka haben die Flüsse ihr Bett verlassen, ungefähr 200 Menschen sind ertrunken oder wurden erdrückt; allein in den letzten sieben Tagen stürzten 200 000 Häuser ein. Zu siebzig Dörfern besteht kein Kontakt mehr.

Im Bundesstaat Andhra Pradesh, der Reisschüssel von Indien, sind rund 200 Dörfer in den Fluten verschwunden; kurz vor der Ernte wurden Tausende von Hektaren Reisfelder vernichtet. Auch aus Orissa, Goa und Teilen von Maharashtra treffen alarmierende Meldungen ein. Und so hat der Kleinbauer Sandeep Patil plötzlich ganz andere Sorgen als noch vor einer Woche: Das bisschen Reis, das er auf seinem ausgetrockneten Boden anpflanzte, könnte nun weggeschwemmt werden.

Die rapide Abfolge von Dürre und Dauerregen ist eine Folge des Klimawandels. Das behauptet jedenfalls einer der renommiertesten Meteorologen Indiens. B. N. Goswami untersuchte die Intensität der Monsune während den vergangenen 150 Jahren und kam zu dem Schluss, dass die Erderwärmung die vertraute Wetterfolge destabilisiert. In den letzten Jahren habe sich, so der Direktor des Indischen Instituts für Tropenmeteorologie, ein neues Muster durchgesetzt. Während es früher drei Monate lang regnete, ist die Monsunzeit heute immer häufiger von einem Wechsel zwischen langen Trockenperioden und kurzen, heftigen Stürmen geprägt. Derselben Meinung ist auch Rajendra Pachauri, Vorsitzender des Weltklimarats, der seit Jahren vor den Folgen des hauptsächlich von den Industriestaaten verschuldeten Kohlendioxid-Ausstosses warnt.

Den Klimawandel bekommt ein Staat wie Indien alleine nicht in den Griff. Daran ändern auch die Ideen der indischen Regierung nichts, die vor kurzem dem Westen einen Deal vorschlug: Indien könnte in den nächsten zwanzig Jahren weitgehend auf Solarenergie umstellen – wenn die Industriestaaten dafür bezahlen. Zudem ist die Regierung inzwischen bereit, international verifizierbare Kontrollen der CO2-Reduzierungen zuzulassen; Neu-Delhi hatte das bisher abgelehnt. Inzwischen kontert Indiens Umweltminister Jairam Ramesh die Vorwürfe der westlichen Regierungen, sein Land tue zu wenig gegen die bevorstehende Klimakatastrophe, recht geschickt: «Wir haben Entwicklungsemissionen, ihr habt Lifestyle-Emissionen», sagte er vor kurzem.

Aber all das nützt der Landbevölkerung wenig. Sie ist jetzt bedroht: Nicht nur von aussen, sondern auch durch die Entwicklungen im Lande selber. «Wir müssen endlich erkennen, dass Indiens Landwirtschaft nicht nur eine Maschine für die Lebensmittelproduktion ist», sagte vor kurzem der Agronom M. S. Swaminathan. «Sie stellt auch das Rückgrat für sechzig Prozent unserer Bevölkerung dar.» Wenn sich diese Erkenntnis bei der Elite nicht durchsetze, «werden Armut und Elend auf dem Land nicht nur andauern, sondern grösser werden», sagte Swaminathan, der als Vater der Grünen Revolution in Indien gilt. Er schliesst mittlerweile «ernsthafte soziale Unruhen» nicht mehr aus.

Taskforce mit beschränktem Ziel

Um die enormen Probleme bewältigen zu können, hat Premierminister Manmohan Singh – einer grossen indischen Tradition folgend – einen Ausschuss eingesetzt und Finanzminister Pranab Mukherjee zum Vorsitzenden des Crisis Management Committee (CMC) gemacht. Die Hauptaufgabe des Ministers bestand bisher jedoch vor allem darin, das Bruttosozialprodukt zu steigern – indem er Industrie- und Finanzunternehmen mit Zuschüssen bedachte. Allein im letzten Finanzjahr hat die Regierung ihre Subventionen an Privatunternehmen um 26 Prozent erhöht. Derzeit erhalten indische und ausländische Konzerne Regierungshilfe in Höhe von 120 Millionen Euro – pro Tag.

Für die hungernde Landbevölkerung bleiben da nur beschwichtigende Worte. «Die Lage ist heikel, aber das heisst noch nicht, dass wir jetzt Eidechsen essen müssen», sagte Finanzminister Mukherjee tröstend. Ausserdem sei die aktuelle Trockenheit ja nicht die erste Dürre, die Indien heimsuche. Man werde mehr Mittel für die Subventionierung der Grundnahrungsmittel bereitstellen, fügte er hinzu. Genaue Zahlen nannte er aber nicht. Und überhaupt: Kommt das Geld, sollte es je fliessen, denn überhaupt unten an?

Eine Lösung der Probleme ist auch deshalb so schwierig, weil diese von gleich mehreren Faktoren geprägt sind, die sich gegenseitig verstärken:

– Die Parteien interessieren sich nur vor Wahlen für die Bevölkerung, die nie und auf keiner Ebene in Entscheidungsprozesse einbezogen wird.

– Es gibt keine langfristigen Visionen. Was zählt, ist der Machterhalt.

– Die allgegenwärtige Korruption ist mittlerweile so systemimmanent, dass selbst die wenigen Kampagnen für eine Politik der sauberen Hände schnell scheitern.

– Die Faszination für Grossprojekte ist trotz der vielen negativen Erfahrungen mit Megastaudämmen wie dem am Narmada-Fluss und der Erfolge basisnaher, dezentraler Bewässerungssysteme ungebrochen.

– Die meisten BürgerInnen haben das Vertrauen in das System und die Hoffnung auf Verbesserung verloren. Gleichzeitig steigen allerdings die Erwartungen: Die Regierung sei für alles zuständig, denken viele und lehnen sich zurück. Mit den Händen arbeiten wollen nur wenige.

– Und jene, die noch ernsthaft nach Alternativen suchen, haben den gesellschaftlichen Wandel entweder nicht mitkommen oder keine Schlüsse daraus gezogen. Stattdessen wenden sie sich der Religion zu oder – wie die maoistische Guerilla der NaxalitInnen – der Gewalt und verlieren den Kontakt zur Gesellschaft.

Kollektive Selbsthilfe

Gibt es also keinen Ausweg für die KleinbäuerInnen? Doch. Aber der ist nicht einfach, weil er mit manueller und gedanklicher Anstrengung verbunden ist. Gedanklich insofern, als er einen Abschied von gängigen, individualistischen Gesellschaftsmustern verlangt. Es gibt viele kleine Beispiele dafür, dass kollektive Selbsthilfe funktioniert, dass sich DorfbewohnerInnen zusammenschliessen und ihre eigenen Visionen umsetzen.

Im Süden des regenarmen Bundesstaats Radjastan haben beispielsweise die Familien des Dorfes Ogna ein traditionelles Bewässerungssystem wiederbelebt. Sie leiten das Wasser vieler kleiner Bäche so geschickt zusammen, dass es unter dem Druck des Zuflusses sogar leichte Anstiege überwindet und dann dorthin fliesst, wo es den Menschen dient.

Die Lösung der meisten Probleme kommt nicht von oben. Das gilt nicht nur für Indien. Wie heisst es so schön? Wenn die Bevölkerung führt, werden die FührerInnen folgen.