home
zur Übersicht ↑ Indien

Indien: Anschläge auf eine multiethnische Stadt

Die Wut der Muslime

4. Dezember 2008 | Die Anschläge in Bombay wären eine grosse Chance für Indien und Pakistan, gemeinsam gegen den Terrorismus vorzugehen – auch gegen den hausgemachten.

Text: Joseph Keve, Bombay, Übersetzung: Pit Wuhrer

Am 26. November um 20 Uhr 30 ist das frisch verheiratete Paar Amit und Carsha Thadani auf dem Weg zu ihrem grossen Hochzeitsempfang im Kristallraum des Taj-Mahal-Hotels im Süden von Bombay. Im nahegelegenen Leopold Cafe in Colaba trinkt der Belgier Ronny Quireyns ein Bier und diskutiert mit Freunden. Und nicht weit davon entfernt, neben dem Fischmarkt am Cuffe Parade, steigen zehn Männer im Alter zwischen 20 und 25 Jahren mit schweren Rucksäcken aus kleinen Booten. Sie sind bewaffnet und unterwegs zur Mission ihres Lebens. Während der folgenden zweieinhalb Tage wird Bombay Ziel eines der heftigsten Terrorangriffe seiner Geschichte: 195 Menschen sterben, 292 werden verwundet.

Das bei ausländischen TouristInnen äusserst beliebte Leopold Cafe an der Colaba Causeway wurde als Erstes angegriffen. Kurz darauf eröffneten die Terroristen auch im Taj Mahal Palace Hotel das Feuer und nahmen Geiseln, genauso wie etwas später in einem anderen Fünfsternehotel, dem Oberoi Trident. Ein weiteres Ziel der Terroristen war die Victoria Terminus Station, der Hauptbahnhof. Dort schossen die Attentäter wahllos in die Menschenmenge. Neben einer Geiselnahme im Cama Krankenhaus und mehreren Schusswechseln und Explosionen auf den Strassen zwischen den verschiedenen Tatorten drangen die Terroristen zudem in das Narima House ein, einem jüdischen Zentrum in der Nähe des Colaba-Markts, das häufig jüdische Reisende beherbergte, und ermordeten den Rabbi und seine Frau.

Erst 59 Stunden später waren auch die letzten Geiseln von der Nationalen Sicherheitsgarde befreit. Viele bezeichnen die Angriffe als einen Krieg gegen Bombay. In der Millionenstadt scheint seither jeder und jede eines der Opfer zu kennen. Dennoch kehrt bereits der Alltag wieder zurück. Bei den meisten EinwohnerInnen allerdings mehr aus der wirtschaftlichen Not heraus. Denn gleichzeitig sind viele zutiefst verängstigt und fühlen sich mehr denn je von den PolitikerInnen im Stich gelassen.

Einäugige indische Justiz

Am Morgen des 27. November herrschte eine unheimliche Stille auf Bombays Strassen. In der Untergrundstation Malad, dreissig Kilometer vom Ort der Anschläge entfernt, sitzen kaum Passagiere in den wenigen Zügen. Die meisten Läden sind geschlossen. Unbehagen und Angst sind beinahe körperlich spürbar. Im Blumenladen am Orlem-Markt wartet Anil Shinde auf seine Lieferung und erzählt: «Meine Familie hat die ganze Nacht kein Auge zugetan.» Wie viele andere seien sie wie gebannt vor dem Fernseher gesessen und würden sich weigern, nach draussen zu gehen. «Was tun diese Muslime unserem Land an?», fragt Shinde wütend.

Auch Fayez Mohammed, der Besitzer eines Ladens für Hammelfleisch, ist besorgt: «Mein Sohn arbeitet als Kellner in einem Hotel in Colaba. Ich hoffe, dass keine Muslime aus Bombay in die Anschläge verwickelt waren», sagt er. «Selbst wenn nur Gerüchte aufkommen, werden wir darunter zu leiden haben.» Denn bei jedem Bombenanschlag oder jeder Schiesserei würde die Polizei junge Muslime von der Strasse holen. Obwohl die MuslimInnen bei solchen Anschlägen meistens auch zu den Opfern gehörten, würden sie verhört, misshandelt und zu Geständnissen gezwungen, erzählt Mohammed.

Immer wieder gibt es Berichte darüber, dass das indische Justizsystem und die Mehrheit der Polizeikräfte stark gegen MuslimInnen voreingenommen sind. So gibt es bis heute keine Gerichtsurteile in den Prozessen um die Zerstörung der Babri-Moschee in Ayodhya 1992, den Ausschreitungen in Bombay von 1992 und 1993 sowie den antimuslimischen Pogromen im Bundesstaat Gujarat von 2002. Unter den indischen MuslimInnen wächst das Bewusstsein, dass es für sie keine Gerechtigkeit gibt und die Schuldigen freikommen, sobald sich herausstellt, dass radikalhinduistische Gruppen beteiligt sind. Noch immer leiden MuslimInnen in den Bundesstaaten Kaschmir, Gujarat, Madhya Pradesh wie auch in vielen Städten und Dörfern in ganz Indien. Und immer wieder weisen Menschenrechtsgruppen darauf hin, dass als Folge militante muslimische Gruppen vermehrt Zulauf erhalten.

Fundamentalistische Hindus

Allein 2008 wurden in Indien 59 Bombenanschläge und zwei Terrorangriffe verübt, bei denen über 440 Menschen starben und Tausende verwundet wurden. Seit Jahren ist eine Zunahme der Anschläge zu verzeichnen, die von fundamentalistischen Hindugruppen verübt werden. Das zeigen auch die Untersuchungen der Bombenanschläge auf einem muslimischen Friedhof vom 29. September 2008 in Malegaon im Bundesstaat Maharashtra: Seit die HindufundamentalistInnen 1998 beschlossen, ihre Hasskampagnen gegen Minderheiten auszuweiten, haben laut Untersuchungsbericht deren AnhängerInnen viele Regierungsinstitutionen infiltriert, darunter auch Polizei und Armee.

Obwohl die Untersuchungen der Behörden im Fall Malegaon noch nicht abgeschlossen sind, hat sich die Indische Volkspartei BJP mit radikalen Gruppen des aggressiven Hindunationalismus zusammengetan, so dem Welthindurat VHP, dessen Jugendorganisation Bajrang Dal und anderen fundamentalistischen Randgruppen. Zusammen organisieren sie eine Demonstration gegen die Fortsetzung der Untersuchungen und führen Verleumdungskampagnen gegen die ermittelnden BeamtInnen.

Nicht erst die Ausschreitungen diesen Sommer in Orissa, Karnataka und anderen Bundesstaaten haben gezeigt, dass der VHP und Bajrang Dal im ganzen Land Tausende Schläfergruppen aufgebaut haben, die jederzeit mobilisiert werden können. Mit den anstehenden Lokalwahlen in vier Bundesstaaten und den Parlamentswahlen im Mai 2009 wird es jedoch keine Partei wagen, gegen die HindufundamentalistInnen vorzugehen.

«Die Terroristen wussten genau, was sie taten», schrieb der Kolumnist Shashi Tharoor in der «Times of India» am 30. November. Mit ihren Anschlägen hätten sie Indiens finanzielle und wirtschaftliche Hauptstadt im Kern getroffen. Sie seien gezielt gegen Symbole des Fortschritts vorgegangen, die «das indische Modell für die globalisierte Welt so attraktiv macht: Luxushotels, schicke Cafés, ein Wohnhaus, in dem gerne AusländerInnen übernachteten».

Beinahe alle Hinweise – von den Telefongesprächen zwischen den Terroristen und ihren Befehlsgebern in Karachi, Informationen auf verschiedenen Handys bis hin zu den Aussagen des einzigen überlebenden Terroristen – deuten darauf hin, dass es sich bei den Tätern um pakistanische Bürger handelt. Verschiedene Geheimdienste behaupten zudem, über eindeutige Beweise zu verfügen, dass Pakistan hinter den Anschlägen stecken würde.

Demgegenüber haben der pakistanische Präsident Asif Ali Zardari und seine Regierung mehrfach versichert, dass sie sofort Massnahmen ergreifen würden, sobald die indische Regierung Beweise dafür vorlege. Noch während der Attacken in Bombay hatte sich bereits eine Gruppe namens Deccan Mudschaheddin zu den Anschlägen bekannt. Allerdings verfügen weder indische noch pakistanische Geheimdienste über Informationen zu dieser Gruppe. Einige vermuten gar, dass es sich dabei um ein reines Ablenkungsmanöver handelt.

Mögliche Folgen

Seit Indien und die USA ein Abkommen über nukleare Zusammenarbeit unterzeichnet haben, betrachten die PanislamistInnen Indien als einen Teil der Achse, die die USA, Britannien und Israel verbindet. Nur zu gerne würden sie den Staat deshalb in internationale Kämpfe und langfristige, unlösbare Streitigkeiten verwickeln – dass dies nicht aus der Luft gegriffen ist, zeigen die Reaktionen auf die Morde im jüdischen Zentrum in Bombay.

Eine weitere mögliche Folge der Bombay-Anschläge wäre eine Verschlechterung der indisch-pakistanischen Beziehungen. Dies wiegt umso schwerer, als sich erst seit wenigen Jahren ein politisches Tauwetter zwischen den bitter verfeindeten Nachbarn abzuzeichnen begann. Bessere Beziehungen zwischen den beiden Nuklearmächten könnten zudem zu einem gemeinsamen und gezielteren Vorgehen gegen den Terrorismus führen. Besonders an der pakistanisch-afghanischen Grenze könnte sich dies negativ auf und die Taliban auswirken. Käme es stattdessen zu einer Verschärfung der Situation zwischen den Nachbarländern, so könnte sich Pakistan gezwungen sehen, wieder mehr Truppen an seine Grenze mit Indien zu verlegen. Dies wiederum würde den militärischen Druck gegen und die Taliban verringern. Entsprechend erklärte Präsident Zardari vergangenes Wochenende, dass Indien keine Gefahr für Pakistan darstelle, und forderte eine Öffnung der Grenze für den Handelsverkehr.

Doch es liegt nicht allein in den Händen der pakistanischen Regierung. So vermutet Shaun Gregory, einer der führenden Experten für südasiatischen Terrorismus, dass die Bombay-Anschläge von aufgebrachten indischen Muslimen begangen wurde: «Die indische Regierung wird es immer vorziehen, solche Anschläge als Angriffe von aussen zu bezeichnen. Das lässt sich der indischen Bevölkerung einfacher vermitteln, als wenn sie zugeben müsste, im eigenen Land ein massives Problem mit 145 Millionen Muslimen zu haben, die sich wegen der Missstände immer mehr radikalisieren.»

Es fehlt der Wille

Die indischen PolitikerInnen haben bisher kaum etwas zur Lösung des Problems beigetragen. So schrieb die Bombayer Tageszeitung «Daily News & Analysis» bereits am 29. November: «Unsere politischen Führer haben die üblichen Sprüche geliefert. Doch sie haben es nicht geschafft, dass die Bevölkerung wieder Vertrauen zu ihnen fasst.» Wie sollte sie auch? Die Warnungen der Geheimdienste vor einem geplanten Anschlag in Bombay wurden ignoriert. Die Ausrüstung der Polizei wirkt im Vergleich zu derjenigen der Terroristen veraltet. Und der Austausch zwischen verschiedenen Regierungsbehörden ist mühsam und langsam.

Hinzu kommt, dass die Regierung über eine lausige Bilanz verfügt, wenn es darum geht, die Verantwortlichen für Terrorismus und gewalttätige Ausschreitungen zu bestrafen. Angesichts der wachsenden Wut der Bevölkerung sind auf Druck der Zentralregierung gerade drei Minister zurückgetreten. Doch dies ändert nichts an der Tatsache, dass der politische Wille fehlt, die wahren Probleme anzugehen. So scheint sich als einzige Konsequenz nach den Anschlägen nun abzuzeichnen, dass sich die Art und Weise, wie Indien bisher auf Terrorismus reagiert hat, grundlegend verändern wird. Dass sich dadurch die Situation der indischen MuslimInnen verbessern wird, ist nicht anzunehmen.