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Indien: Kampf um die richtige linke Linie

Guter Freund Klassenfeind

3. April 2008 | In diesen Tagen entscheidet sich, ob Indiens KommunistInnen zu ihrem alten Schwung zurückfinden. Oder als neoliberale Bettvorleger politisch untergehen.

Text: Joseph Keve, Cochin, Übersetzung: Pit Wuhrer

«Sozialisten von Indien, vereinigt euch! Ihr habt nichts zu verlieren ausser ein paar kryptokapitalistische superpragmatische Marxisten!» Mit diesen Sätzen beginnt ein Artikel im indischen Wochenmagazin «Mainstream». Geschrieben hat ihn Anfang März V.R. Krishna Iyer, ein allseits geachteter Menschenrechtler, der bis 1980 als Chefrichter am Supreme Court of India amtierte und in Kerala immer noch einer der angesehensten Linken ist. Iyer, mittlerweile 92 Jahre alt, mischte sich mit seinem scharfen Votum in eine Auseinandersetzung ein, die in Kerala seit einem Jahr die politische Debatte dominiert.

In diesem südindischen Bundesstaat lieferten sich zwei Titaten der seit Mai 2006 regierenden Kommunistischen Partei Indiens/Marxisten (CPM) über Monate hinweg einen erbitterten Kampf. Auf der einen Seite stand der 85 Jahre alte V.S. Achudananthan, der die egalitären Prinzipien hochhält und ein bescheidenes Leben führt. Auf der anderen Seite agierte der viel jüngere Parteisekretär Pinnarayi Vijayan, der für ein kapitalistisches Industrialisierungsmodell eintritt, Projekte wie die «Smart City» – eine Art indisches Dubai – am Rande von Cochin befürwortet, für steuerfreie Sonderwirtschaftzonen plädiert und die sozialistische Idee von Gleichheit und Gerechtigkeit für überholt hält. Ihr Kampf wurde zuweilen so heftig geführt, dass im Herbst das CPM-Politbüro intervenierte und beiden einen Maulkorb verpasste.

Doch der Konflikt schwelt weiter. Schliesslich geht es um Grundsatzfragen: Wie und wohin soll sich die indische Gesellschaft entwickeln? Will die Linke den Kapitalismus noch überwinden? Oder soll sie sich mit einer besseren Verwaltung des kapitalistischen Modells begnügen?

Die linke Tradition …

Nirgendwo wird diese Debatte so intensiv geführt wie in Kerala, dem Bundestaat mit dem höchsten Bildungsniveau und der geringsten Analphabetenquote Indiens (knapp fünf Prozent). Hier ist die CPM überall präsent. Keine Strassenkreuzung, kein Dorf und erst recht keine Stadt, wo nicht rote Fahnen - meist mit Hammer und Sichel – flattern und Plakate mit den Konterfeis von Karl Marx, Friedrich Engels, Lenin und Che Guevara. Kein Weiler, in dem nicht CPM-Mitglieder agitieren und zur Teilnahme an Volksversammlungen aufrufen, an denen auch ihre Minister sprechen – meist von oben herab, aber immerhin: Sie sind da. Und müssen Fragen beantworten. Die Menschen diskutieren gerne; dafür sind die KeralitInnen in ganz Indien bekannt.

Dass die Bevölkerung von Kerala so gebildet ist, hat vor allem mit der Politik der KommunistInnen zu tun. Er werde eine «demokratische sozialistische Republik» schaffen, versprach Indiens Ministerpräsident Jawarharlal Nehru nach der Unabhängigkeit 1947. Sein Kampf für die Armen und gegen die Fürsten und Grossgrundbesitzer beschränkte sich jedoch auf Sonntagsreden. Im Südwesten des Landes hingegen handelten die Menschen – und brachten 1957 erstmals in der Geschichte demokratisch eine kommunistische Partei an die Macht.

Ganz unproblematisch war die erste Amtszeit des damaligen kommunistischen Chefministers E.M.S. Nambooridipad freilich nicht verlaufen. Der politische Druck des feudalen Landadels und orthodox religiöser Gruppierungen liessen Nambooridipad bald resignieren: Man könne wohl nicht mehr tun, als nur die von der Zentralregierung beschlossene Landreform durchzusetzen, sagte er nur wenige Monate nach Amtsantritt. Das tat er dann auch – und zwar so entschlossen, dass ihn Nehru 1959 absetzen liess. Dem grossen Führer der indischen Kongresspartei gingen die in Kerala beschlossene Enteignung der Landlords und die Verteilung ihres Grundbesitzes an landlose BäuerInnen dann doch zu weit.

Zehn Jahre später war Nambooridipad jedoch wieder da. Die KommunistInnen hatten 1969 die Parlamentswahl in Kerala gewonnen, kämpften gegen grosse Widerstände für eine Landreform, ignorierten die von Grundbesitzern erwirkten Gerichtsurteile, beteiligten sich an Landbesetzungen, unterstützten die Streiks von Jute-, Tee-, Textil- und IndustriearbeiterInnen für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen und setzten eine Schulreform in Kraft, die selbst den Ärmsten eine Ausbildung ermöglichte. Die Schlachten, die sie damals schlugen, wirken bis heute nach: In Kerala wie in den ostindischen Bundesstaaten Westbengalen und Tripura (siehe Text in der Randspalte) zehren die KommunistInnen noch immer von ihrem einst erworbenen Ruf als Partei der Armen. Doch allmählich verblasst dieser Nimbus.

… die Anpassung heute

Mittlerweile hat die CPM einen anderen Kurs eingeschlagen. Die Zeit, in der sie mit Parolen wie «Alles Land den Bauern!» oder «Nieder mit dem Imperialismus!» Millionen begeisterte, ist vorbei. Heute sagt selbst Jyoti Basu, von 1977 bis 2000 Chefminister im kommunistisch regierten Westbengalen, dass der «Sozialismus noch weit entfernt» sei und man sich deshalb mit dem Kapitalismus arrangieren müsse.

Buddhadeb Bhattacharjee, Basus Nachfolger an der Spitze der westbengalischen Regierung, ist der Überzeugung, dass «die kapitalistische Industrialisierung der einzig gangbare Weg» sei und «die Kommunisten einige ihrer Dogmen loswerden» müssten. Ende 2006 liess Bhattacharjee sogar Polizeitruppen gegen die Bevölkerung des westbengalischen Dorfes Nandigram aufmarschieren, die sich gegen die Zwangsenteignung ihres Ackerlandes zugunsten einer indonesischen Investmentfirma wehrte. Bei den Auseinandersetzungen wurden vierzehn DorfbewohnerInnen von der Polizei erschossen.

Diese Tat empörte nicht nur die kommunistische Basis. Der Einsatz sei ein Fehler gewesen, entschuldigte sich Bhattacharjee im Januar bei einem Besuch in Nandigram. Doch an seiner unternehmerfreundlichen Politik werde er festhalten. Er, Basu und andere Pragmatiker spielen eine gewichtige Rolle beim neunzehnten Parteikongress der CPM, der an diesem Freitag in Coimbatore im Bundesstaat Tamil Nadu seinen Abschluss findet. Die Form ihrer Parteitage haben sich die indischen KommunistInnen den GenossInnen in China abgeschaut: Disziplin geht über alles. «Wir können uns keine Diskussionen, keinen Dissens leisten», sagt ein CPM-Mitglied in Bombay, das ungenannt bleiben will: «Der Klassenfeind lauert überall.» Aber hat die Partei überhaupt noch Klassenfeinde?

Was lief schief seit Ende der siebziger Jahre, als auch in Westbengalen und Tripura die kommunistische Ära begann? «Jetzt regieren sie schon seit dreissig Jahren», sagt Vinod Chavan, ein langjähriges CPM-Mitglied in Bombay, «und nichts hat sich bewegt.»

Was, fragt er, hat die Parteiführung davon abgehalten, die Landreformen fortzusetzen? Warum hat sie in den von ihr dominierten Bundesstaaten keine partizipative Demokratie von unten, von den Dörfern her entwickelt? Was hinderte sie daran, Massnahmen zur Trinkwasser- und Stromversorgung zu ergreifen, den Bildungssektor auszuweiten oder Produktions- und Konsumgenossenschaften zu fördern?

«Es gibt keine allgemeingültigen Blaupausen für eine sozialistische Gesellschaft», schrieb vor kurzem der marxistische Theoretiker Randhir Singh im «Mainstream», «das Projekt Sozialismus verlangt eine fortwährende Suche und einen beständigen Kampf für eine menschlichere Gesellschaft.» Genau in diesem Punkt, argumentiert Singh, sei die CPM-Führung gescheitert – und das in einem Land, in dem über 300 Millionen Menschen von weniger als einem US-Dollar am Tag leben müssen und jeden Abend hungrig ins Bett gehen. Es gibt mehrere Gründe für dieses Versagen. Die Zersplitterung der Linken zum Beispiel, deren Parteien und Gruppen sich gegenseitig bekriegen. Vor allem die kleinen sozialistischen Parteien, viele nichtstaatliche Organisationen (NGO) und Menschenrechtsvereinigungen beklagen sich zudem über die Haltung der CPM, die zwar über eine gut funktionierende Wahlkampfmaschinerie verfügt, andere Linke und die Bedürfnisse der Menschen aber nicht ernst nimmt.

Die kleine Avantgarde

Dem CPM-Politbüro sind nur noch die ökonomische Entwicklung und der wirtschaftliche Erfolg wichtig. Und dieser bemisst sich allein in der Anhäufung von materiellem Wohlstand. «In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Kommunisten nicht von den konservativ-bürgerlichen Parteien», sagt der Politikwissenschaftler Amit Bhaduri. Es sei daher nicht überraschend, dass selbst multinationale Konzerne den indischen KommunistInnen wohlgesinnt sind und sie hofieren.

Diese Anerkennung ist auch der Dank dafür, dass sich die kommunistischen Kader mit dem zufrieden gaben, was sie schon früh erreicht hatten: Landreformen, Durchsetzung eines Mindestlohns für LandarbeiterInnen, soziale Absicherung des unteren Mittelstandes – und Posten und Macht für sich selber. Sie haben es längst aufgegeben, die politischen und ökonomischen Verhältnisse zu analysieren. Und haben eine nur begrenzte Vorstellung von der «revolutionären Avantgarde».

Die CPM und die kleine Kommunistische Partei Indiens (CPI) kümmern sich nur um die gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten des Service public und einiger grosser Privatfirmen. Die aber machen gerade mal zwanzig Prozent der indischen Arbeiterklasse aus. Für die grosse Mehrheit der Ausgebeuteten – die Landarbeiterinnen, Tagelöhner, Töpferinnen, Bauarbeiter, Hausangestellten und so weiter – interessieren sich die kommunistischen Parteien kaum. Schlimmer noch: Sie bekämpfen zuweilen sogar NGOs, die sich – wie in Nandigram – für die Ohnmächtigen und Marginalisierten einsetzen.

Hoffnung China?

Die Ergebnisse des Parteikongresses in Tamil Nadu stehen noch aus. Es ist jedoch anzunehmen, dass die CPM – wie so oft in ihrer Geschichte – dem Beispiel der Kommunistischen Partei Chinas folgt. Diese hat an ihrem letzten Parteitag im Oktober einen sanften Kurswechsel eingeschlagen – und unter dem Stichwort «Harmonie» erstmals ökonomische Entwicklung nicht nur gepriesen, sondern auch die mit dem Wirtschaftswachstum verbundenen Schwierigkeiten angesprochen: die ökologischen Probleme und die wachsende Kluft zwischen Stadt und Land, zwischen Arm und Reich.

In den letzten Tagen haben sich die CPM-Delegierten eingehend mit den aktuellen Herausforderungen beschäftigt: Soll die Partei den von der Kongressregierung favorisierten indo-amerikanischen Atomdeal ablehnen? Unterstützt sie auch künftig die Zentralregierung von Manmohan Singh? Wie bereitet sie sich auf die 2009 anstehende Parlamentswahl vor? Doch die entscheidende Frage ist, ob sie sich wieder zu Visionen durchringen kann und eine Alternative zum Kapitalismus entwickelt – und zurückfindet zum Konzept der Basismobilisierung.

Die Voraussetzungen dafür sind – trotz der Konflikte um Sonderwirtschaftszonen wie in Nandigram – so schlecht nicht. Selbst die schärfsten linken KritikerInnen der CPM geben zu, dass sich keine politische Organisation so vehement den religiös-bigotten Kräften widersetzt, die das säkulare Indien in einen hinduistischen Staat verwandeln wollen. Und dass alle anderen Parteien noch viel korrupter sind. Um in Indien die sozialistische Idee wiederzubeleben, braucht es jedoch mehr.