Indien: Besuch bei den NaxalitInnen
Mit Pfeil und Bogen
17. Februar 2005 | Vor einem Jahrzehnt noch waren die NaxalitInnen, die maoistische Guerilla, in Vergessenheit geraten. Jetzt kontrollieren sie wieder einen Teil des Landes. Wieso?
Text: Joseph Keve, Bijapur, Übersetzung: Pit Wuhrer
«Komm allein, komm ohne Fahrzeug, komm ohne Aufsehen», hatte es geheissen, und daran hielt ich mich auch. Vor kurzem war ich in Bijapur, im indischen Bundesstaat Chhattisgarh, eingetroffen, um hier einen Kurs zum Thema nachhaltige Landwirtschaft zu leiten. Die Gegend um Bijapur gilt als RebellInnengebiet, hier leben viele UreinwohnerInnen, so genannte Adivasi. Die Wälder sind dicht, der Boden ist reich an Rohstoffen (Eisen, Mangan, Bauxit und Glimmer). Fünfzig Menschen hatten sich für den Workshop angemeldet, zehn aber konnten nicht kommen, weil sie von NaxalitInnen, der linken Guerilla, gestoppt worden waren. Zuerst müsse ich ihnen den Inhalt und die Ziele des Kurses erläutern, liessen mich die Bewaffneten wissen. Also ging ich hin, allein und zu Fuss.
Am vereinbarten Treffpunkt – eine Schule in einem Nachbardorf – erwartete mich eine junge Adivasi-Frau. «Welcome», sagte sie, «erzähle mir von deinem Trainingsprogramm, was hast du vor?» Sie hörte sich meine Schilderungen an, stellte immer wieder Fragen (in vorzüglichem Englisch) und nickte am Schluss: «Ausgezeichnet. Kann ich dir zwei unserer Kader in den Kurs schicken?» Dann beantwortete sie meine Fragen.
Susheela (ihren Nachnamen nannte sie nicht) war in einem Dorf 350 Kilometer weiter weg aufgewachsen, ging in eine Klosterschule, studierte später in Raipur, der Hauptstadt von Chhattisgarh, Politik und Soziologie und war für Recherchen im Rahmen ihrer Dissertation in diese Gegend gekommen: Sie wollte die Lebensumstände der Gonds untersuchen, einer Adivasi-Gruppe im Gebiet um Bijapur.
«Ich habe viele Dörfer besucht und überall die gleichen Geschichten gehört – Geschichten von Geldverleihern, Polizisten und Politikern, die die Armen unterdrücken, ins Gefängnis werfen, erschiessen.» Von den NaxalitInnen habe sie damals nur gehört, aber wenig gewusst – bis es die tonangebenden Leute im Ort auf sie, die Auswärtige, abgesehen hatten: «Eines Tages holte die Polizei Ajay, den einzigen Sohn der Familie, bei der ich lebte. Sein Vater protestierte, wurde geschlagen und bekam dann einen Strafbefehl überreicht: Sein Sohn würde freigelassen, wenn er tausend Rupien zahle (rund fünfzehn Tageslöhne), denn er beherberge eine Naxalitin. Damit meinten sie mich.»
Daraufhin habe Ajays Mutter Susheela in die Wälder geführt zu den wirklichen NaxalitInnen. Dort traf sie auf Uma, die Anführerin der NaxalitInnen in der Region Bijapur. Uma war Lehrerin gewesen, bevor sie der Sohn des Dorfältesten vor den Augen der Dorfpolizei vergewaltigte. «Als ich Uma traf», erinnert sich Susheela, «wussten wir beide sofort, dass wir einen gemeinsamen Kampf zu führen hatten.»
Von der Offensive zur Gegenwehr
In den letzten Jahren habe ich viele Menschen getroffen, die sich den Aufständischen angeschlossen haben, und alle erzählten ähnliche Geschichten: wie sie drangsaliert und gedemütigt wurden, wie man ihnen die Würde raubte und alles nahm, was sie besassen. Viele von ihnen sind Adivasi.
Die Bewegung der NaxalitInnen umfasst derzeit rund 35 linke Gruppen und Parteien. Ihr Name ist Programm: 1967 hatte sich die Bevölkerung des Dorfes Naxalbari im ostindischen Bundesstaat Westbengalen gegen die Ausbeutung durch Grossgrundbesitzer zur Wehr gesetzt – zuerst friedlich und mit Massenprotest, dann mit Waffengewalt. Die kommunistische Regionalregierung von Westbengalen reagierte mit Repression, aber auch mit Landreformen auf den Protest von Naxalbari, dem sich viele StudentInnen angeschlossen hatten. Sie waren in die Dörfer gegangen, um die Bauern und LandarbeiterInnen zu agitieren, «befreite Zonen» zu schaffen und – nach chinesischem Muster – langsam die Städte einzukreisen, wo jene sassen, die ihrer Ansicht nach von den halbfeudalen, halbkolonialen Verhältnissen auf dem Land profitierten. Die Bewegung breitete sich schnell aus und erfasste bald auch andere Bundesstaaten wie beispielsweise Andhra Pradesh im Südosten des Landes.
In den siebziger und achtziger Jahren verlor die Bewegung an Zulauf. Denn die indischen MaoistInnen – anfangs beseelt von der 1966 initiierten chinesischen Kulturrevolution und getrieben von der staatlichen Verfolgung – hatten eine Killerstrategie entwickelt. Selbst kleine Grundbesitzer, Dorfbeamte und Dorfpolizisten wurden damals als «Agenten der Kompradorenbourgeoisie» verfolgt und getötet. Diese erbarmungslose «Vernichtung des Klassenfeindes» drückte der ganzen Bewegung ihren Stempel auf und führte sie in eine immer grössere Isolation. Die städtischen SympathisantInnen wandten sich ab, auch die ländliche Basis wollte den Kampf auf dieser Ebene nicht weiterführen. Zudem verlor das chinesische Modell allmählich an Glanz; die Vorgänge während der chinesischen Kulturrevolution sprachen sich auch in Indien herum. Und so kam es, dass eine Reihe naxalitischer Organisationen den bewaffneten Kampf zugunsten ziviler Protestformen wie Landbesetzungen, Protestmärsche und Hungerstreiks einstellte; manche Gruppierungen entschieden sich gar für den parlamentarischen Weg.
Mitte der neunziger Jahre beschränkten sich die «befreiten Zonen» auf einige weit abgelegene Gebiete im Innern des indischen Subkontinents. Und auch dort ging es nicht mehr um die «Revolution», sondern nur noch um die Verteidigung der Lebensverhältnisse, um die Abwehr von Übergriffen und den Widerstand gegen allzu gierige Grossgrundbesitzer und korrupte Beamte. Der bewaffnete Kampf war kein strategisches Mittel mehr, sondern bestenfalls eine defensive Massnahme.
Ein Fünftel des Territoriums
Die zunehmende Armut, die wachsende Ungleichheit und die andauernde Ausbeutung auf dem Land haben der Bewegung mittlerweile wieder Auftrieb verschafft. Heute reicht das Einflussgebiet der NaxalitInnen von Karnataka im Süden über die ländlichen Gebiete von Andhra Pradesh, Madhya Pradesh, Maharashtra, Uttar Pradesh, Chhattisgarh und Jharkand bis Orissa im Norden. Rund ein Fünftel des indischen Territoriums werde mittlerweile von den NaxalitInnen kontrolliert, hiess es Anfang Dezember im indischen Parlament.
Der unerwartete Erfolg der NaxalitInnen ist auf eine Reihe von Faktoren zurückzuführen. Mit ihrer neuen Strategie (Verteidigung statt Angriff, Schutz der Schwachen statt Weltrevolution) haben die naxalitischen Kader – die teilweise immer noch der urbanen, gebildeten Mittelschicht entstammen – wieder Wurzeln schlagen können. Die Machtverhältnisse und die alltägliche Repression auf dem Land treiben immer wieder Menschen in die Flucht und in den Untergrund (wie Susheela und Uma). Und die grossen linken Parteien bieten der Landbevölkerung ebenso wenig eine Alternative wie die Behörden auf Landes- und Bundesstaatsebene, die in der Revolte immer noch vorwiegend ein Law-and-Order-Problem sehen (siehe Text in der Spalte nebenan).
So sind die grossen Linksparteien – die ehemals ebenfalls maoistische Kommunistische Partei von Indien/Marxisten, die in ihren Hochburgen Westbengalen und Kerala mittlerweile eine weitgehend sozialdemokratische Politik verfolgt, und die traditionell eher Moskau-orientierte Kommunistische Partei von Indien – derzeit mit sich selbst beschäftigt. Beide Parteien haben trotz ihren jüngsten Wahlerfolgen grosse Mühe, die richtige Balance zu finden zwischen ihren althergebrachten ideologischen Grundsätzen und den Erwartungen ihrer vor allem städtischen Basis, die im Zuge der Globalisierung zerrieben wird. Ihr Einfluss beruhte bisher auf den Gewerkschaften, doch deren Macht bröckelt angesichts der neoliberalen Politik.
Auch die Mitte-links-Regierung in Neu-Delhi wagt es nicht, die Machtverhältnisse auf dem Land anzutasten. Eine Verbesserung ihrer Situation können die bedrängten Kleinbauern und LandarbeiterInnen von ihr nicht erwarten, jedenfalls nicht sofort. In diesem politischen Vakuum erleben die NaxalitInnen einen Aufschwung, haben enorm an Selbstbewusstsein gewonnen und wollen nun eine «Kompakte Revolutionäre Zone» errichten. Diese Zone soll sich von der Südspitze des Subkontinents bis zur Grenze nach Nepal erstrecken und praktisch alle Adivasi-Gebiete umfassen. Sollte dieser Plan gelingen, wäre der Nordosten des Landes, in dem viele separatistische Gruppierungen agieren, vom Rest des Landes isoliert; zu den nepalesischen MaoistInnen bestehen ohnehin beste Verbindungen.
Pragmatische Politik
Da sie wieder da sind, klopfen die NaxalitInnen auch grosse Sprüche. So hat sich die im September 2004 neu gegründete Kommunistische Partei von Indien/Maoisten (CPIM) – ein Zusammenschluss von zwei grossen naxalitischen Verbänden – zur einzig «wahrhaft proletarischen Partei» ernannt, unter deren Führung eine «neue demokratische Gesellschaft in Richtung Sozialismus und Kommunismus» etabliert würde und die sich bei ihrer Politik allein von den Prinzipien des «Marxismus/Leninismus/Maoismus leiten» lasse. Hauptziel ihres Kampfes seien «die Hindu-Faschisten» sowie «der indische Expansionismus, der US-Imperialismus und die Solidarität mit den nepalesischen Maoisten und den anderen unterdrückten Völkern wie in Peru, in der Türkei und Afghanistan».
Doch solche Parolen werden in den Wäldern kaum vernommen. Dort gelten andere Regeln. Und andere Bedürfnisse. Worin diese bestehen, hat erst kürzlich der Anti-Guerilla-Experte Ranjit Kumar Gupta in einem Buch geschildert. Die Naxaliten, schrieb der ehemalige Polizeioffizier, hätten mit ihre «Volksgerichten» ein Rechtssystem entwickelt, das dem Bedürfnis der Armen nach Gerechtigkeit entgegenkomme.
Dieses System funktioniert in etwa so: Wenn die NaxalitInnen von Grossgrundbesitzern, Beamten oder Geldverleihern hören, die Lohn vorenthalten, sich widerrechtlich Land aneignen oder Wucherzinsen verlangen, laden sie die Beschuldigten zu einer öffentlichen Versammlung im Dorf ein, auf der ZeugInnen vortreten können. Gibt der Beklagte die Verfehlung zu, muss er Entschädigung zahlen. Weist er die Klage zurück, wird er innerhalb einer bestimmten Zeit erneut zur Anhörung gebeten. Kommt er nicht oder geht er zur Polizei, wird er abgeholt (dabei kommt es oft zu Gewalttätigkeiten). Wenn sich Wohlhabende an einer Frau vergehen, müssen sie sie heiraten oder eine hohe Entschädigung zahlen, aber auch Männer aus ärmeren Schichten werden in einem solchen Fall zur Rechenschaft gezogen.
Die Kritik der Frauen
Es gibt jedoch auch scharfe Kritik an den NaxalitInnen. Diese kommt unter anderem von Frauenorganisationen. Die NaxalitInnen hätten – wie auch die traditionellen Linksparteien – ihr Augenmerk zu stark auf die neokolonialen und semifeudalen Aspekte der indischen Gesellschaft gerichtet, sagen die linken Frauen. Zu einer linken Position gehöre jedoch auch die Kritik am Patriarchat, am Kastenwesen und die Forderungen nach gleichem Lohn, nach Kinderkrippen, nach Frauenhäusern, nach Schutz für Hausangestellte und anderem mehr. Warum, so fragten sie, vermeiden ausgerechnet jene Parteien, die sonst so lautstark die Machtverhältnisse zwischen Klassen, Kasten und dem Staat thematisieren, die Grundsatzfrage nach dem Machtverhältnis zwischen Mann und Frau?
Dieser Kritik konnten sich weder die linken Parteien noch die NaxalitInnen auf Dauer entziehen. Mitte Oktober trafen sich VertreterInnen der KPs, der Aufständischen und der linken Frauenbewegung zu einem inoffiziellen Gipfeltreffen. Vor allem die NaxalitInnen akzeptierten die Kritik der Frauen. Die radikalen Frauen könnten praktisch wie intellektuell enorm viel zur Bewegung beitragen, sagten sie nach dem Treffen.
In manchen Distrikten haben die Frauen längst das Sagen. «Sollen wir dich nach Hause geleiten?», fragte Susheela am Ende unseres Treffens und stellte mir Shraddha vor, eine junge, bewaffnete Frau in Uniform, die für die Sicherheit im Bezirk zuständig ist. «Die Gesellschaft hält Armut für ein Verbrechen, aber niemand fragt, warum es so viele Arme gibt und was sie arm macht. Uns wird jeden Tag ein Stück Land, ein Stück Wald weggenommen.»
Auch Shraddha denkt nicht an Revolution. «Uns geht es nicht um die Macht», sagte sie. «Wir wollen nur, dass die Regierung das tut, was sie tun soll, dass uns die Grundbesitzer und Händler nicht ausnehmen und dass wir über unsere Ressourcen verfügen können.» Mit den Zielen der MaoistInnen in den sechziger und siebziger Jahren hat das wenig zu tun. Aber vielleicht sind Leute wie Susheela und Shraddha gerade deswegen so populär, zumindest bei den Armen. «Wünsch uns Glück», sagten die beiden zum Schluss. Und verschwanden in der Nacht.