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Britannien: Ausstieg aus der EU?
Brexit in sechs Punkten
25. April 2016 | In zwei Monaten entscheidet ein Referendum, ob das Vereinigte Königreich aus der Europäischen Union ausscheidet. Alle erwarten ein knappes Resultat.
Verlässt das Vereinigte Königreich von Grossbritannien und Nordirland nach 43 Jahren Zugehörigkeit die Europäische Union? Falls ja, würde die grösste Wirtschaftsmacht der Welt ein wichtiges Mitglied verlieren: Rund sechzig Millionen Menschen leben in Britannien und Nordirland, das sind etwa zwölf Prozent der EU-Bevölkerung. Nur Deutschland und Frankreich haben mehr EinwohnerInnen. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt liegt Britannien (inklusive Nordirland) sogar an zweiter Stelle. Dazu kommt, dass das Vereinigte Königreich Atommacht ist und zu den fünf ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats zählt. Verkraftet die EU den Verlust, sollte es zum Ausstieg kommen? Und was würde Britannien gewinnen?
An dieser Stelle ein paar Überlegungen zum Brexit, wie das mögliche Ausscheiden Britanniens genannt wird. Der folgende Text bietet keine Gesamtanalyse, sondern lediglich sechs Hinweise.
1. Es gibt Wichtigeres
Es gibt für Britannien und die EU Wichtigeres als die Frage, ob das Vereinigte Königreich EU-Mitglied bleibt, oder nicht.
Für Britannien ist das beispielsweise die wachsende Ungleichheit zwischen Klassen und Regionen; die enormen Unterschiede zwischen den früheren Industrieregionen im Norden und der Finanzmetropole London etwa; die zentrifugalen Kräfte, die den Viernationenstaat auseinander treiben; die enormen Probleme der britischen Industrie, die derzeit in der Stahlkrise zum Ausdruck kommen; die Dominanz der Finanzwirtschaft in der Londoner City, die schon längst die Politik bestimmt. Und nicht zuletzt die Austeritätspolitik der regierenden Tories, die einen Teil der Bevölkerung regelrecht aushungert (wie die rapide steigende Zahl von Suppenküchen zeigt) und zugleich entmachtet.
Die EU wiederum schlägt sich mit ganz anderen Sorgen herum: die wachsende Kluft zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden; die deutsche Dominanz, die in der knallharten Politik der Troika gegenüber den Krisenstaaten zum Ausdruck kommt; die rapide Entdemokratisierung, die sich an den geplanten Handelsabkommen TTIP, CETA und TiSA zeigt (an denen auch die Schweiz beteiligt ist oder mitmachen will); das immer noch imperial geprägte Verhältnis zum globalen Süden. Und nicht zuletzt die Flüchtlingssituation, die bisher zu kaum mehr geführt hat als einer Negation aller Werte und Rechte durch die EU-Regierenden.
Es gibt also Wichtigeres als den Brexit.
2. E-exit statt Brexit
Der Begriff Brexit, also der Austritt Britanniens aus der EU, ist insofern irreführend, als es nicht die BritInnen sind, die Europa verlassen wollen; es sind vor allem die EngländerInnen. Die WaliserInnen, die Schotten und der irisch-katholische Teil der nordirischen Bevölkerung sind klar für Beibehaltung der Union. Und auch unter den EngländerInnen waren bisher bei weitem nicht alle der Meinung, dass die EU-Mitgliedschaft ein drängendes Problem darstellt. Für das Referendum am 23. Juni haben vor allem zwei Gruppierungen gekämpft – der rechte und elitäre Flügel der Tory-Party, der seit langem europa-skeptisch ist, und die United Kingdom Independence Party (UKIP), die bei der Unterhauswahl 2015 knapp dreizehn Prozent der Stimmen holte (aber nur ein Mandat).
Nur diesen beiden Strömungen und dem Ehrgeiz von David Cameron ist zuzuschreiben, dass es so weit kam. Cameron, der 2005 unbedingt Tory-Vorsitzender werden wollte, hatte auf dem Wahlparteitag im Herbst 2005 die Parteirechte für sich gewinnen können – mit dem Versprechen, die konservative Partei im EU-Parlament aus der Fraktion der EU-freundlichen Europäischen Volkspartei und ins Bündnis der EU-SkeptikerInnen (der «Fraktion der Konservativen und Reformer») zu führen. Was ja dann auch geschah. Doch das genügte den EU-GegnerInnen nicht. Cameron, den die britische Tageszeitung «Guardian» einmal als «Gefangenen der Parteirechten» charakterisierte, war anfangs zwar entschieden gegen ein In-Out-Referendum. Dem Druck der Rechten war er jedoch nicht gewachsen – zumal UKIP bei Kommunalwahlen und der EU-Wahl 2014 im Südosten Englands viele Stimmen gewann. Das Referendum hat mehr mit Machtkämpfen in der Tory-Party zu tun als mit irgendwas anderem.
Sollte sich die Rechte auch bei der Volksabstimmung durchsetzen und Britannien aus der EU austreten, ist einigermassen klar, was folgen wird: der Austritt Schottlands aus dem Vereinigten Königreich. Die traditionell internationalistisch und sozialdemokratisch orientierten SchottInnen hatten sich im September 2014 in einem heftig umkämpften Referendum mit knapper Mehrheit für einen Verbleib in Britannien ausgesprochen. Aber damals war schon klar, dass die Forderung nach einem unabhängigen Schottland nicht ad acta liegt. Die Vorsitzende der sozialdemokratischen Scottish National Party (SNP), Nicola Sturgeon, hat in den letzten Wochen mehrfach die Option eines zweiten Schottland-Referendums ins Gespräch gebracht, sollten die SchottInnen wider Willen aus der EU gezwungen werden.
3. Alles ist denkbar
Das Resultat wird höchstwahrscheinlich knapp ausfallen. Derzeit liegen die beiden Lager in den Umfragen gleichauf – bei ungefähr vierzig Prozent der Stimmen. Nach dem Desaster der Demoskopen bei der letzten Unterhauswahl im Mail 2015 weiss aber niemand, woran man ist. Auch damals war ein Kopf-an-Kopf-Rennen von Labour und Tories vorhergesagt worden (jeweils 34 Prozent der Stimmen), herausgekommen ist dann ein vergleichsweise hoher Sieg der Konservativen.
Die sogenannten «Inners» (Drinbleiber) sind wie die «Outers» (Rausgeher) in allen sozialen Schichten vertreten, in allen Altersgruppen, in allen Parteien – und auch bei der Geschlechtszugehörigkeit gibt es keine Unterschiede. Das macht eine Vorhersage so schwierig. So liest man beispielsweise in den Medien von Leuten, die eigentlich für den Austritt stimmen wollten, dann aber ihre Meinung änderten, als sich der Londoner Oberbürgermeister (und Erz-Konservative) Boris Johnson gegen die EU-Mitgliedschaft aussprach. Sie können den einfach nicht leiden. Oder man hört, dass Camerons Verwicklung in die Panama-Papers und sein nur sehr zögerliches Zugeben, dass auch seine Familie eine Briefkastenfirma unterhielt, dem Ja-Lager schwer geschadet habe – weil jetzt manche versucht sein könnten, dem Premierminister eins auszuwischen.
4. Furcht gegen Furcht
Der Wahlkampf wird mit Angstparolen und harten Bandagen geführt. Es geht ja auch um Einiges: Die britische Wirtschaft wickelt einen Grossteil des Aussenhandels im EU-Raum ab: Rund 45 Prozent der Exporte – so die Zahlen von 2014 – gehen in die anderen EU-Staaten, und von dort kommen etwa 53 Prozent der Einfuhr. Zwar sinken die Anteile seit ein paar Jahren, da der Handel mit Nicht-EU-Ökonomien leicht zunimmt; dennoch bleiben der Kontinent und Irland die bei weitem wichtigsten Handelspartner.
Ein Austritt würde diese Zusammenarbeit und den Warenaustausch gefährden, sagen die einen. Und alle müssten unter dem Absturz der Ökonomie leiden, der bei einem Austritt unvermeidlich sei: die Finanzwirtschaft, das Gewerbe, die Beschäftigten, die Sozialkassen, das Nationale Gesundheitswesen (NHS). Jeder britische Haushalt würde bei einem Austritt zwischen 2700 und 3300 Pfund pro Jahr verlieren (umgerechnet 3460 beziehungsweise 4240 Euro), hat beispielsweise der Industriellenverband CBI errechnet.
Unsinn, sagt die Gegenseite: Britannien könne ja auf den Handel mit den ehemaligen Kolonien setzen, das Vereinigte Königreich würde weit mehr in die EU-Kassen zahlen als es zurückbekomme, könne daher Milliarden sparen, ausserdem zeige doch die Schweiz, dass es auch ohne EU-Mitgliedschaft gehe. Viel schlimmer sei die Fremdbestimmtheit aus Brüssel, die Reise- und Niederlassungsfreiheit der EU-BürgerInnen, der Sozialstaatstourismus, der die Gesellschaft destabilisiere und das Nationale Gesundheitswesen schwäche, und so weiter.
Es stehen sich also zwei Horrorszenarien gegenüber – anders als bei der Schottland-Abstimmung, wo zumindest die Seite der EigenständigkeitsbefürworterInnen das freundliche Bild eines vom Neoliberalismus unabhängigen, atomwaffenfreien Schottlands skizzierten. Dummerweise gewannen im September 2014 jene Kräfte, die das Schreckgespenst eines bankrotten Schottlands an die Wand malten, das keine Renten mehr zahlen kann und die Sozialhilfe weiter kürzen müsse. Jetzt sagen beide Lager, dass alles nur noch schlimmer komme – falls die jeweils andere Seite gewinnt.
Interessant an der aktuellen britischen Debatte ist: Es kommt auf die Fakten gar nicht so an. Eine Vielzahl von Einzelfaktoren spielen eine grössere Rolle. Tendenziell eher zum Austritt neigen etwa die KleinunternehmerInnen, der Mittelstand, die Ausgestossenen, die Arbeitslosen – also all jene, die einen sozialen und ökonomischen Absturz befürchten oder diesen schon hinter sich haben und kaum noch Hoffnung haben, jemals wieder ein Stück nach oben zu kommen.
Das hat viel mit der rabiaten Austeritätspolitik von Cameron und Schatzkanzler George Osborne zu tun, die den Staat schrumpfen, Städte verarmen, Behinderte und Kranken quälen lassen. Stagnierende Löhne, über zwei Millionen Nullstunden-Arbeitsverträge, mangelnde Gewerkschaftsrechte, fortgesetzte Kürzungen des Sozialbudgets, grassierende Wohnungsnot: Das macht das Leben von Millionen zum Alptraum. Wer für den Austritt ist, lässt sich an der UKIP-Wählerschaft ablesen: Das sind oft Menschen im englischen Südosten mit den altehrwürdigen, aber längst abgehängten Seaside Resorts, den alten Küstenorten des britischen Binnentourismus mit ihren maroden Pier Heads. Und viele Lohnabhängige, die von New Labour allein gelassen wurden. Die frustriert und erbittert verfolgen, wie die politische Klasse immer elitärer wird. Die erleben, wie die Jungen, die «white working class youth», keine Ambitionen mehr haben, keine Hoffnungen, in der Schule früh scheitern – während die jungen Angehörigen anderer Gemeinschaften, der asiatischen zum Beispiel, sie überflügeln. Aber sie haben ja auch noch Gemeinschaftssinn und ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Kultur der weissen Kids hingegen wurde in den achtziger Jahren von Margaret Thatcher zerstört, als mit der Deindustrialisierung und der Zerschlagung der Gewerkschaften das solidarische Miteinander verschwand. Viele der Lohnabhängigen, die der EU skeptisch gegenüber stehen, sehen in der Globalisierung und der neoliberalen Politik, die die EU-Oberen seit Jahrzehnten vorantreibt, eine der Ursachen für ihre Misere. Zu Recht.
Zu ihnen kommen all jene, die wie viele englischen Tory-WählerInnen noch unter dem Phantomschmerz des untergegangenen Empires leiden, die alten, vermeintlich besseren Zeiten nachtrauern, die zurück wollen zur alten Grösse und die daher alles Fremde – auch das europäische Fremde – mit Misstrauen betrachten.
5. Hoffnung von links
Wer hätte vor kurzem noch gedacht, dass Jeremy Corbyn zum Hoffnungsträger von Big Business werden würde? Der CBI ist wie andere Unternehmensverbände und die meisten grossen Firmen ganz entschieden für Beibehaltung der EU-Mitgliedschaft. Für sie sind in dieser Frage die Tories keine verlässlichen PartnerInnen; die konservative Unterhausfraktion ist in der Mitte gespalten. Bei Labour dagegen haben sich 214 der 232 Abgeordneten klar für die ausgesprochen; nur die Linke tut sich schwer damit. Und das seit langem: Beim britischen EU-Referendum 1975 zum Beispiel hatte sich die Linke um die damalige Führungsfigur Tony Benn ganz entschieden dafür ausgesprochen, diesem «undemokratischen kapitalistischen Club» schnellstmöglich den Rücken zu kehren.
Das sehen manche heute noch so: Gewerkschaften wie die linke konfliktorientierte RMT sagen: Raus. Die Mehrheit der Trade Unions aber sind nach wie vor der Meinung, die sie nach Thatchers Totalangriff in den achtziger Jahren gefasst hatten: Die EU gehöre zwar reformiert und demokratisiert, habe den britischen Lohnabhängigen aber etwas gebracht, jedenfalls mehr als die eigenen Regierungen: Beschränkung der wöchentlichen Arbeitszeit zum Beispiel, oder mehr Arbeitssicherheit am Arbeitsplatz. Als sich die EU nicht nur als Wirtschafts-, sondern auch als Sozialunion verstand (das war zu Jacques Delors' Zeiten tatsächlich so), wären die positiven Auswirkungen der Europäischen Gemeinschaft für die britische Arbeiterklasse noch spürbarer gewesen – wenn nicht britische Regierungen regelmässig per Veto Ausnahmeregelungen für die britischen Unternehmen durchgesetzt hätten.
Corbyn hat eine Weile gezögert, bis er sich entschieden für die Fortsetzung der EU-Mitgliedschaft aussprach. Er und die wichtigsten Mitglieder seines Schattenkabinetts gehören zum grundsätzlich EU-kritischen Flügel der Labour Partei – in dieser Sache aber eine andere Position zu vertreten als die Mehrheit der Labourfraktion im Unterhaus, hätte die Partei zerrissen. Und so zieht Corbyn seit zwei Wochen durchs Land und versucht zweierlei: Einerseits für ein Ja zur EU zu werben und andererseits die Reformbedürftigkeit der zentralistisch-neoliberalen Union hervorzuheben. Kleine Ironie am Rande: Wenn der linkeste Labourvorsitzende seit Keir Hardie genügend Menschen mobilisieren kann, hat er nebenbei auch den Job des rechten Premiers Cameron gerettet.
6. Lange Nachwirkungen
Egal, wie das Referendum ausgeht: Die Folgen werden noch lange zu spüren sein. Die Tories jedenfalls bleiben zerrissen. Für sie gibt es – je nach Abstimmungsresultat – drei Möglichkeiten. Erstens: Entscheidet sich die Mehrheit der Britinnen und Nordiren für den Exit, kann sich Cameron nicht mehr halten, dann hat Boris Johnson gute Chancen. Aber verkraftet das der liberale Flügel der Partei? Zweitens: Geht das Votum hingegen knapp für ein Drinbleiben aus, heisst das, dass zwar die Mehrheit der Abstimmenden für die EU-Mitgliedschaft ist, die Mehrheit der konservativen Parteimitglieder aber dagegen. Das macht die Sache für den Vorsitzenden nicht einfach – egal, wie der heisst. Drittens: Selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass sich auch unter den Tory-WählerInnen eine klare Mehrheit für die EU entscheiden sollte, wäre Cameron die Rechte nicht los. Gemütlich wird es für die Konservativen auf keine Fall.
Das gilt auch für Labour – jedenfalls dann, wenn Britannien aussteigt. Ein Brexit wäre für die Linke verheerend, und zwar nicht nur, weil die Rechte triumphieren würde. Sondern weil dann Schottlands Abspaltung erneut auf die Tagesordnung käme. Ohne die mehrheitlich linken SchottInnen aber hätte Labour einen schweren Stand. In England und Wales würde die Partei auf lange Zeit hinaus keine Parlamentsmehrheit gewinnen. Für Labour steht also einiges auf dem Spiel. Aber das war bei Schottland-Referendum ja auch so. (pw)