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Britannien: Ausgliederungen, Kürzungen, Privatisierungen
Wie ein Staat verschwindet
28. Oktober 2015 | Seit dem Wahlsieg der Tories im Mai beschleunigt sich der Abbau des britischen Gemeinwesens. Dabei war das einmal der Stolz aller gewesen. Ein Rückblick.
Sie lassen sich einfach nicht unterkriegen. Sie demonstrieren vor der Stadtverwaltung, ziehen vor Gericht, stehen vor dem Hauptquartier des Immobilienkonzerns Annington nahe der Londoner Oxford Street, verteilen Flugblätter, malen immer wieder neue Transparente, debattieren, organisieren, feiern zwischendurch auch mal und liessen sich selbst vom niederschmetternden Ergebnis der Unterhauswahl im Mai nicht beirren: Seit Anfang 2015 kämpfen die BewohnerInnen des Nordlondoner Quartiers Sweets Way gegen das, was sie «social cleansing», «soziale Säuberung», nennen.
Denn der konservative Stadtrat von Barnet, einem Bourough im Norden der Hauptstadt, will ihr Viertel mit 142 Sozialwohnungen abreissen. Er hat das Gelände an den Annington-Konzern verkauft, der seit Jahrzehnten sein Geschäft mit dem Erwerb und der Modernisierung von staatlichen Liegenschaften macht. In London, wo die Immobilienpreise explodieren, ist das ein einträgliches Unterfangen.
Die BewohnerInnen von Sweets Way sind weitgehend auf sich gestellt, aber sie stehen nicht allein. In rund zwanzig anderen Londoner Stadtteilen widersetzen sich ähnliche Initiativen dem Kahlschlag im sozialen Wohnungswesen; manchmal sogar erfolgreich, wie der Protest der armen BewohnerInnen des Quartiers New Era im Borough Hackney zeigte, den ein US-Investor räumen lassen wollte, um die Mieten verdreifachen zu können (Hackney wird von Labour regiert, und nicht – wie Barnet – von den Tories). Aber grosse Chancen hat der Widerstand normalerweise nicht: Es ist viel zu viel Geld im Spiel, und in den kommunalen Budgets wachsen aufgrund der Austeritätspolitik die Haushaltslöcher.
Attlees Reformen
Dabei ist die Wohnungsnot gross, nicht nur in London. 2013 standen fünf Millionen BritInnen auf der Warteliste für erschwinglichen Wohnraum. Seit der Staat den sozialen Wohnungsbau praktisch aufgegeben und dem Kapitalmarkt überlassen hat, werden jährlich 100.000 weniger Wohnungen gebaut als nötig wären.
Das war in der Nachkriegszeit noch anders gewesen: Zwischen 1945 und 1951 – zur Zeit der Labourregierung von Clement Attlee – hatte der Staat über eine Million Gemeindewohnungen errichtet. Dieses Projekt bildete seinerzeit neben der Gründung des staatlichen Nationalen Gesundheitssystems, dem Ausbau der Sozialsysteme und einem breiten Nationalisierungsprogramm (Verstaatlichung von Eisenbahn, Bergbau, Energieversorgung, Luftfahrt, Stahlindustrie und der Bank of England) einen der Grundpfeiler des britischen Wohlfahrtsstaats.
Attlees Wohnungsbauprogramm war ebenso sinnvoll wie einfach und preisgünstig gewesen: Bis in die achtziger Jahre hinein wurden 80 Prozent des für die Behausung der ärmeren Schichten bereitgestellten Gelds für den Neubau und die Renovierung von Sozialwohnungen ausgegeben. Doch seither wird kaum noch in billigen Wohnraum investiert. Und so gibt die öffentliche Hand seit anderthalb Jahrzehnten 85 Prozent des Sozialwohnungs-budgets nicht für den Bau von Gemeindewohnungen aus – sondern für Wohngeld, das ärmeren Familien zusteht. Damit finanziert der Staat direkt die teuren Mieten privater HausbesitzerInnen: Ihnen kommen inzwischen knapp 50 Prozent des Wohngelds zugute. Der Staat zahlt also weiterhin – nur eben nicht für den Ausbau eines Gemeinwesens, sondern für renditeorientierte Immobilieninvestitionen.
Thatchers «right-to-buy»-Strategie
Begonnen hatte der Kurswechsel unter Margaret Thatchers Regentschaft (1979 bis 1990). Sie hatte schon in den ersten Jahren ihrer Amtszeit Zigtausende von gemeindeeigenen Wohnungen zu Dumpingpreisen an die bisherigen MieterInnen verkauft: Aus der Arbeiterklasse (beziehungsweise deren besser gestellten Teilen) sollten BesitzbürgerInnen werden.
Ihr (politisches) Kalkül ging damals auf – und sicherte ihr unter anderem die Wiederwahl 1983. Die «right-to-buy»-Strategie der Konservativen war in Facharbeiterkreisen populär – nicht zuletzt deswegen, weil die bürokratischen Gemeindeverwaltungen überaus träge agierten: Es konnte zuweilen Monate dauern, bis ein städtischer Bautrupp das lecke Dach inspizierte. Bis 1987 waren eine Million Gemeindewohnungen privatisiert, deren neue EigentümerInnen sich bei den Banken verschuldeten, Hypothekarkredite bedienen mussten und sich genau überlegten, ob sie sich noch einen Arbeitskampf leisten konnten (in Britannien zahlen die Gewerkschaften kein Streikgeld).
Alle folgenden Regierungen, auch die von Tony Blair und Gordon Brown, übernahmen Thatchers Konzept: Sie reduzierten den staatlichen Wohnungsbau und verkauften weiterhin Gemeindewohnungen. Der Markt, das war auch New Labours Credo, sei effizienter, kostengünstiger und daher besser geeignet, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen.
Von British Aerospace bis British Coal
Parallel zu dieser ersten Privatisierungsinitiative begannen die Tories in den achtziger Jahren, eine ganze Reihe von staatseigenen Betrieben und Einrichtungen zu veräussern. Dem Housing Act (Wohnunungsgesetz) von 1980 folgte der Verkauf des Rüstungskonzerns British Aerospace (1981), der britischen Zuckerindustrie (1981), des Autounternehmens British Leyland (1981), eines Teils der Häfen (1983), des Fähreunternehmens Sealink (1984), der Telefongesellschaft British Telecom (1984).
Widerstand gab es kaum, höchstens Einsprüche von Seiten der Gewerkschaften, die durch die Antigewerkschaftsgesetze von 1980 bis 1984 erheblich an Kampfkraft verloren hatten. Und so ging der Verkauf öffentlichen Eigentums munter weiter. In der zweiten Hälfte der achtziger Jahre kamen unter anderem die Airline British Airways unter den Hammer, die Gas- und Wasserversorgungswerke (in der Folge vervielfachten sich die Preise), die Flughäfen, die Stahlindustrie, Rolls Royce und Royal Ordnance, das Pendant zum schweizerischen Bundesamt für Landestopografie.
So resolut sie auch war: Eine Rundumprivatisierung wollte Thatcher jedoch nicht. Man dürfe der Bevölkerung nicht alles zumuten, glaubte sie. Ihre Nachfolger John Major (1990 bis 1997), Tony Blair (1997 bis 2007) und Gordon Brown (2007 bis 2010) waren da anderer Ansicht. Major verkaufte beispielsweise Infrastruktureinrichtungen wie die Severn Bridge, die Elektrizitätsgewinnung und Stromwerke, die Kohleindustrie (gegen deren Privatisierung sich die Bergarbeiter Mitte der achtziger Jahre zwölf Monate lang verzweifelt gewehrt hatten) und 1996 die Eisenbahn.
Die Fragmentierung von British Rail in über hundert privat betriebene Einzelgesellschaften war die bis dahin folgenreichste Privatisierung. Während andere Verkäufe eher problemlos abgewickelt wurden und vor allem die Beschäftigten trafen, die ihre Stellen verloren oder schlechtere Arbeitsbedingungen aufgezwungen bekamen (was die mediale Öffentlichkeit selten interessierte), traf die Zerschlagung des Schienenverkehrs Millionen Fahrgäste nicht nur finanziell: Miserabel abgestimmte Fahrpläne, Zugausfälle, gigantische Verspätungen, Unfälle, die direkt auf die Privatisierung zurückzuführen waren oder der Kollaps des Infrastrukturunternehmens Railtrack 2002 sorgten dafür, dass so gut wie niemand der Mär vom effizienten und kostengünstigen Management des Privatkapitals glauben mochte. Major verlor auch prompt die nachfolgende Unterhauswahl.
Noch heute sind über zwei Drittel der Bevölkerung für eine sofortige Renationalisierung des Bahnbetriebs, zumal immer dann, wenn die öffentliche Hand übernehmen musste (weil ein Privatinvestor aus Profitgründen das Interesse am Bahnbetrieb verlor oder konkurs gegangen war), der Verkehr wieder tadellos zu funktionieren begann. Doch die Labour Partei, die ab 1997 über grosse parlamentarische Mehrheiten verfügte, schrieb nie die Wiederverstaatlichung auf ihre Fahnen. Zu sehr hatte sie unter Blair und Brown das neoliberale Dogma vom aufgeblähten, bürokratischen Staat übernommen, der zusammengeschrumpft werden müsse. Und das nicht nur in Hinblick auf jene Staatsbetriebe, die in der Nachkriegszeit entstanden waren. Davon gab es ohnehin kaum noch welche.
Und so schlug New Labour nur wenige Betriebe los (darunter Teile der BBC und das Atomenergieunternehmen British Nuclear Fuels, zuständig für AKWs und die Herstellung beziehungsweise Wiederaufbereitung von Kernbrennstoffen und -elemente) – und konzentrierte sich stattdessen auf auf eine neue Form des Staatsabbaus. Die Labour-Regierungen verfeinerten und entwickelten die unter Major erstmals eingesetzte Private Finance Initiative (PFI) – hierzulande besser bekannt unter dem Begriff Public Private Partnership oder Öffentlich-private Partnerschaft (ÖPP) – in einem Ausmass, das zuvor undenkbar gewesen wäre.
Plünderung des Service public
Innerhalb kurzer Zeit wurde dieses Modell, das Investitionen in Zeiten begrenzter Haushaltsmittel ermöglichte, als Allheilmittel herumgereicht – und umgesetzt. Das Konzept war ja auch verlockend: Man überträgt den Bau und den Betrieb von öffentlichen Einrichtungen wie Spitälern, Gefängnissen, Brücken, Strassen oder Museen für einen Zeitraum von zumeist dreissig Jahren an private Investoren, zahlt dafür Nutzungsgebühren – und nach Ablauf der Frist gehört das Projekt dem Staat.
Nirgendwo wurden (und werden) mehr PFI-Vorhaben umgesetzt wie in Britannien. Und das, obwohl schnell Kritik laut wurde: Bauunternehmen profitierten von schludrig hingestellten und architektonisch miserabel konzipierten Gebäuden, komplexe Projekte verzögerten sich um Jahre, bei Spitälern wurden wichtige Einrichtungen schlichtweg «vergessen» (oder einfach eingespart), in vielen Fällen blieb das Risiko beim Staat – und eine ganze Reihe von Mängel gelangten wegen der meist vereinbarten Vertraulichkeit der Verträge nie an die Öffentlichkeit. Trotzdem wurden bis 2007 (neue Daten sind nicht verfügbar) via PFI 68 Milliarden Pfund investiert; umgerechnet 100 Milliarden Franken. Während der gesamten Laufzeit der bis dahin abgeschlossenen PFI-Kontrakte zahlt der Staat jedoch den Bauherren insgesamt 267 Milliarden Pfund (393 Milliarden Franken) an Überlassungsgebühren und Zinsen. Ein miserables Geschäft.
Nicht mitgerechnet sind dabei die Anwalts- und Beratungskosten, die laut der Studie «Plundering the Public Sector. How New Labour are letting consultants run off with £70 billion of our money» zwischen 1999 und 2005 für die «Modernisierung des öffentlichen Diensts» anfielen und von der Regierung beglichen wurden. Sie beliefen sich auf rund 103 Milliarden Franken – und das für Tätigkeiten, die bisher Regierungsbehörden ausgeübt hatten.
Kein Wunder, empfahl vor der Unterhauswahl im Mai 2005 ein führender Management Consultant in einem Fachmagazin seinen KollegInnen, für Labour zu stimmen: Mit den immer wieder zu erneuernden Verträgen sei weitaus mehr Geld zu verdienen als mit einmaligen Privatisierungen, die die beratungsresistenteren Tories vorhaben würden. Und wenig Wunder auch, dass Margaret Thatcher einmal auf die Frage, was denn ihr grösster Erfolg gewesen sei, antwortete: «New Labour». Denn Blair und Brown hatten ihre Privatisierungs- und Staatsabbaupolitik nicht nur fortgesetzt, sondern verfeinert: Der Staat zahlte zwar weiter Geld (im Falle von British Rail etwa ein Vielfaches von dem, was zuvor die Staatsbahn bekommen hatte), aber er hatte keine Verfügungsgewalt mehr.
Absturz der Staatsquote …
Unter New Labour nahmen auch «Reformen» Fahrt auf, die ab 2010 die Politik der konservative-liberalen Koalitionsregierung prägten – und seit dem Tory-Wahlsieg 2015 verstärkt vorangetrieben werden. Denn Schatzkanzler George Osborne will laut Medienberichten die Staatsquote, also den Anteil der Staatsausgaben an der wirtschaftlichen Gesamtleistung, bis zum Ende der Legislaturperiode (2020) von derzeit knapp 45 Prozent auf 36 Prozent – und damit auf das Niveau von Lettland, Litauen und Rumänien – drücken. Zum Vergleich: 2013 lag die Staatsquote in Finnland, Frankreich und Dänemark bei jeweils rund 57 Prozent.
Besonders in den Sektoren Gesundheit, Bildung und Justiz wird daher der Staatsabbau zunehmen; andere Bereiche (wie etwa die Feuerwehr) werden nicht ausgespart. Dazu kommt eine nochmals verschärfte Gangart bei der Austeritätspolitik, die neben weiteren Kürzungen öffentlicher Dienstleistungen (seit 2010 gingen im Service public rund 700.000 Stellen verloren) eine massive Reduktion der Sozialleistungen vorsieht: Auf mindestens zwölf Milliarden Pfund, knapp achtzehn Milliarden Franken, sollen die Armen, Arbeitslosen, Kranken und Bedürftigen künftig verzichten müssen. Das hatten die Tories schon im Wahlkampf versprochen. Dass diese Politik bisher das Gegenteil dessen erreichte, was angeblich beabsichtigt war, dass die Wirtschaft und die Binnennachfrage Schaden nahm, dass die Staatsverschuldung nicht sank, sondern zunahm – all das ist schon deswegen nicht ausschlaggebend, weil nicht die britische Staatsschuld das Hauptmotiv für die Kürzungen ist, sondern die marktradikale Ideologie, die mit Thatcher Fuss fasste. Denn wäre der Schuldenabbau das Ziel gewesen, hätten die britischen Regierungen der vergangenen Jahrzehnte eine andere Steuerpolitik betrieben.
… und Steuersenkungen
So sinkt der Unternehmenssteuersatz (Corporation Tax) seit den achtziger Jahren. 1984 mussten Firmen noch 52 Prozent ihrer Gewinne versteuern, 1986 waren es 36 Prozent, unter New Labour fiel der Satz auf 30 Prozent, heute liegt er bei 20 Prozent. Sämtliche Unternehmenssteuern zusammengerechnet machen laut einer Untersuchung des Institutes for Fiscal Studies nur noch 12,5 Prozent des gesamten Steueraufkommens aus; Lohn-, Einkommens- und Mehrwertsteuer finanzieren hingegen zu über 60 Prozent die staatlichen Ausgaben. Und die Finanzwirtschaft der Londoner City wird weiterhin gehätschelt – obwohl es vor allem die Bankenrettungsmassnahmen ab 2007 gewesen waren, die die britischen Staatsschulden von 624 Milliarden Pfund (2007) auf über 1,5 Billionen (2014) in die Höhe getrieben hatten.
Um die Staatsquote so drastisch, wie geplant, senken zu können, wird die Regierung des Umbau des staatlichen, steuerfinanzierten Nationalen Gesundheitssystems (NHS) weiter vorantreiben. Dabei ist das NHS schon heute bis zur Unkenntlichkeit deformiert. 1948 zur kostenlosen Versorgung aller Kranken gegründet, war das NHS – so ergaben auch Analysen der OECD – über Jahrzehnte hinweg das kostengünstigste, effektivste und beste Gesundheitssystem weltweit. Populärer als die Queen ist das NHS auch heute noch mit seinen 1,7 Millionen Beschäftigten und den rund fünf Millionen Behandlungen pro Woche einer der grössten Staatsbetriebe der Welt (nur die chinesische Volksarmee und die indische Eisenbahn beschäftigen mehr Leute).
Doch der Service verkommt zusehends. Begonnen hatte der Ausverkauf mit der Ausgliederung der Putz- und anderer Hilfsdienste (mit erheblichen Folgen für die Lohnabhängigen). Dann folgte die Bündelung der Spitäler und der niedergelassenen ÄrztInnen zu halbautonomen, privatwirtschaftliche agierenden regionalen Einheiten und die staatliche Förderung von Privatkliniken zur Behandlung von PrivatpatientInnen. Und schliesslich wurde (zur Steigerung des «Wettbewerbs» und gegen den vehementen Protest der NHS-ÄrztInnen) den lokalen Arztpraxen ein marktwirtschaftliches Vergabesystem übergestülpt, das reiche PatientInnen bevorzugt, die Warteschlangen vor den Klinken aber beträchtlich anwachsen liess. Die schleichende Privatisierung des NHS (inklusive Sparprogramme, Korruption und Hierarchisierung) schreitet voran – trotz der vielen Skandale. So ist etwa bei zwei der nach ausschliesslich Marktkriterien operierenden Spitäler ein fünfzigprozentiger Anstieg der Mortalitätsrate dokumentiert. Grund dafür: Vernachlässigung, Inkompetenz und Überlastung des Personals.
Private Schulen, private Justiz
Schleichend sind auch die Veränderungen im Bildungswesen. Mittlerweile besucht eine Mehrheit der britischen SchülerInnen private Schulen mit privat angestelltem Lehrpersonal, die vom Staat finanziert werden, aber nicht mehr den lokalen Behörden unterstehen – und von Eltern, Glaubensgemeinschaften oder Trusts geführt werden. Diese sogenannt Freie Schulen bieten oft unterdurchschnittliche Qualität, werden selten kontrolliert und scheren sich kaum um die nationalen Lehrvorgaben; trotzdem gab die Regierung in den vergangenen Jahren mehr Geld für diese «Academies» aus, während sie gleichzeitig das Bildungsbudget kürzte. Ausserdem strich sie den Zuschuss (Educational Maintenance Allowance), der es bis dahin Kindern armer Familien erlaubt hatte, weiterführende Bildungswege zu beschreiten – und verdreifachte auf auf eine Empfehlung von Finanzdienstleistern hin die Studiengebühren von 3000 auf 9000 Pfund. Erfolg: Die Zahl der Studierenden aus der Arbeiterklasse ging deutlich zurück, die Banken profitieren von den Studiendarlehen (deren Rückzahlung oft ein Arbeitsleben lang dauern kann) und sollte es arbeitsmarktbedingt Zahlungsausfälle geben (die Durchschnittslöhne sind in den letzten Jahren um acht Prozent gesunken), springt der Staat ein.
Auch im Justizwesen sorgt der Staat für private Gewinne. Seit 1992 bauen und betreiben Sicherheitskonzerne wie G4S Justizvollzugsanstalten, sie unterhalten Ausschaffungsgefängnisse, unternehmen Gefangenentransporte, organisieren die Überwachung (zum Beispiel mit elektronischen Fussfesseln), verfügen über forensische Labors und stellen Sicherheitsleute, die zunehmend Polizeiarbeit leisten. Seit Februar 2015 werden zudem siebzig Prozent der Bewährungshilfe von Privatunternehmen wie der französischen Sodexo-Gruppe erledigt, die innerhalb eines Jahres rund ein Drittel der BewährungshelferInnen durch maschinelle Kontrollsysteme wie regelmässiges Einchecken an Automaten ersetzen wollen. Das ist billiger als die individuelle Zuwendung von professionellen BewährungshelferInnen, die ProbandInnen unterstützen und beraten.
Auch im Sozialwesen haben Firmen die Kontrolle übernommen. So überprüfte beispielsweise der französische Dienstleistungskonzern Atos über Jahre hinweg die Arbeitsfähigkeit von Menschen mit Behinderungen. Auftraggeber war das Arbeits- und Rentenministerium, das sich unter anderem zum Ziel gesetzt hatte, die Beihilfen für Behinderte zu reduzieren. Wer als arbeitsfähig gilt, verliert den Anspruch auf Unterstützung. Atos bescheinigte das nur allzu gern und recht grosszügig: Im Finanzjahr 2010/11 etwa starben 1300 Behinderte, denen kurz zuvor noch aufgrund von Atos' Bewertung («arbeitsfähig») die Beihilfen gestrichen worden waren.
2014 verlor das Unternehmen den Auftrag, den es vierzehn Jahre ohne Ausschreibung inne hatte, weil sein rigoroses Vorgehen an die Öffentlichkeit geraten war. Rund die Hälfte der Behinderten hatten gegen die Entscheidungen geklagt, über drei Viertel der Klagen waren erfolgreich, die Verfahrenskosten trug die Staatskasse. Inzwischen überwacht das Ministerium die Bewertungsverfahren, am System selber aber hat sich nichts geändert.
Auch in anderen Bereichen blüht die private Geschäft. Arbeitslose Jugendliche werden im Namen der Wiedereingliederung zu Gratisarbeit für Unternehmen gezwungen und müssen in Supermärkten Regale füllen, wenn sie die Arbeitslosenhilfe nicht verlieren wollen. Die Börsengang der Staatspost Royal Mail 2013 – es war die grösste direkte Privatisierung der letzten zwei Jahrzehnte – brachte den (zumeist institutionellen) AnlegerInnen mehrere Hundert Millionen, da der Aktienausgabepreis viel zu niedrig angesetzt worden war. Und jetzt will die Regierung von David Cameron in einer Art Neuauflage von Thatchers «Right-to-buy»-Politik 1,3 Millionen Genossenschaftswohnungen auf den Markt bringen; geschätzte Kosten für den Staat: 5,9 Milliarden Pfund.
Gegen diese Politik, die nicht mit Inkompetenz und Ignoranz allein erklärt werden kann, regt sich Widerspruch. Mitte Juni demonstrierten zwar 250.000 Menschen gegen die geplante Intensivierung der Austeritätspolitik und die wachsende soziale Ungleichheit – aber solche Manifestationen kümmern die Wahlsieger vom Mai genauso wenig wie der StudentInnenaufruhr 2010 gegen die Gebührenerhöhung. Oder die Sweets-Way-BewohnerInnen mit ihrer lebhaften Kampagne. Geht der Abbau grad so weiter? Das hängt ganz wesentlich davon ab, ob der neue Labour-Chef Jeremy Corbyn seine Partei hinter sich scharen kann. Und ob die linke Basisbewegung, die Corbyn ins Amt brachte, zu einer politischen Kraft wird, die Alternativen nicht nur postuliert, sondern auch durchsetzen kann.
PS: Dieser Beitrag erschien zuerst im Denknetz-Jahrbuch 2015, das soeben erschienen ist: «Zerstörung und Transformation des Gemeinwesens». Ca. 224 Seiten, Broschur, Fr. 22.–, 19.80 Euro, ISBN 978-3-85990-272-5
(pw)