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Britannien: Supercenter statt Queens Market?

Die ganze Welt auf einem Teller

31. August 2006 | In Newham, einer der ärmsten Gemeinden Britanniens, gibt es den ältesten und buntesten Strassenmarkt von London. Nun will ihn die Labour-dominierte Stadtverwaltung durch einen Supermarkt ersetzen.

Man kann ihn kaum übersehen, den 120-Kilo-Mann inmitten seiner Äpfel, Kiwis, Guaven, Papayas, Litschis und Mangos. Und wer ihn nicht sieht, hört ihn, wenn er seine Ware anpreist im Ostlondoner Cockney-Akzent. Brüllen muss er dabei selten. Denn die Käuferinnen – in Jeans, in Röcken, in Saris, in Pluderhosen oder in der Burka – stehen oft Schlange, und sie alle behandelt Neil Stockwell, einer der Obst- und Gemüsehändler vom Queens Market, fast zärtlich. «Sixty pence, meine Liebe», sagt er, nachdem er eine Tüte Bohnen abgewogen hat. Oder: «One pound, sweetheart» (so viel kosten 24 Bananen bei ihm). Oder: «Excuse me, Sir, Sie haben Ihre Mandarinen vergessen!» – «Hat er gerade «lovely lady» zu mir gesagt», fragt eine rund vierzigjährige Schwarze und strahlt, während sie den Salat und ihre Mangos einpackt: «So was habe ich schon lange nicht mehr gehört.»

Neil Stockwell liebt seinen Job. «Ich habe hier eine Aufgabe», sagt er, «ich diene den Menschen.» Dafür steht er viermal in der Woche vor 2 Uhr in der Früh auf, fährt zum Grossmarkt in Spitalfields, kauft dort Obst und Gemüse, richtet es auf seinem Stand her, bedient bis spät abends eine Kundschaft, die genauso bunt ist wie seine Waren, und ist dankbar dafür, dass diese ihm, dem weissen Engländer, nicht die Politik der weissen britischen Regierung im Irak vorhält. «Ich bin ja kein politischer Mensch», sagt er, «aber die Muslime sind ja so tolerant.» Vor einiger Zeit, erzählt er, «hat mich ein muslimischer Gentleman gefragt: «Sag mal, Neil, wie würdest du denn reagieren, wenn du im Radio hörst, dass irakische Truppen mit Panzern durch London fahren? Wärst du nicht auch entsetzt?» Da habe ich einiges begriffen.»

Links scheppert Reggae aus Lautsprechern, rechts nigerianische Lieder. Ein Halal-Metzger preist Lammkoteletts an. Nebenan offeriert ein Fischhändler aus Sri Lanka Meeresfrüchte aus allen Ozeanen. Und nebenan verkauft ein Somali Kräuter und Gewürze, darunter acht verschiedene Chilisorten, jeweils gemahlen, getrocknet oder frisch. Dann ein westindischer Gemüsestand mit Blockbohnen, Helmbohnen und Spargelbohnen. Hinter ihm ein Händler aus Rumänien, der auch Efeukürbis, Flaschenkürbis und Butternusskürbis feilhält. Der asiatische Kollege nebenan wirbt für Bittergurken, Wasserbrotwurzeln und seine grünen, braunen, schwarzen und gelben Kochbananen. Dazwischen Stände mit billigen Uhren und Schuhen, westafrikanischen Daschiki-Hemden. Auch vier Coiffeure hat es hier, jeden Afroschnitt beherrschen sie. Ausserdem Cafés, Haushaltsgeschäfte mit Töpfen und Schöpfkellen, die selbst den grössten Grossfamilien genügen, asiatische Apotheken, Möbel- und Teppichhandlungen, CD- und Videoshops für alle Geschmäcker der Welt und einen arabisch-muslimischen Buchladen.

Seit hundert Jahren da

Queens Market ist mit seinen 73 Shops und 80 Ständen der älteste, bunteste und ethnisch vielfältigste Markt von London. Er liegt an der Green Street inmitten von Newham, dem ärmsten Borough von London. Von der U-Bahn-Station Upton Park sind es nur zwei Minuten, das Fussballstadion von Westham United ist nur einen Steinwurf entfernt. Über 8000 Menschen besuchen den Markt an jedem der vier Handelstage pro Woche (die Läden haben an sechs Tagen geöffnet). Rund 54 Prozent von ihnen – das ergab eine Untersuchung der Stadtverwaltung von Newham – kommen aus Familien asiatischen Ursprungs; 27 Prozent stammen aus Ostafrika, Nigeria oder aus der Karibik; der Rest ist weiss.

Das war nicht immer so. Neil Stockwell vom Obststand kann sich noch gut erinnern, wie er als «barrow boy», als Karrenbub, seinem Grossvater zur Hand ging. Der habe in den sechziger Jahren vor allem einheimisches Gemüse verkauft: Blumenkohl, Karotten, Kartoffeln. Doch dann seien die ersten ImmigrantInnen aus der Dritten Welt aufgetaucht. Dadurch änderte sich der Markt, der 1890 entstanden war, 1911 an die Queens Street umzog (daher der Name), 1963 an den heutigen Ort verlegt wurde und lange Jahre von deutschen EinwanderInnen, dann von jüdischen ImmigrantInnen und schliesslich von EngländerInnen frequentiert worden war.

«Anfang der siebziger Jahre kamen die ersten Leute, die nach Mangos fragten und nach anderen Früchten, von denen wir noch nie etwas gehört hatten», sagt Stockwell, der jetzt in vierter Generation den Stand betreibt. «Mein Grossvater zögerte erst, kaufte dann aber doch sechs Mangos. Die waren nach einer halben Stunde weg. Also orderte er neue – und von da an wurde alles anders.»

Nach den AsiatInnen kamen AfrikanerInnen, die ebenfalls eigene Bedürfnisse mitbrachten – und so verkaufen die Stockwells (Neils Bruder Eddie hat ebenfalls einen Stand) heute statt zwei Tonnen Gemüse zwanzig Tonnen Obst in der Woche. Die Familie von Julie Lightly blickt ebenfalls auf eine lange Tradition zurück. Schon ihre Urgrossmutter hatte auf dem Queens Market einen Stand aufgeschlagen, den dann ihr heute 86 Jahre alter Grossvater übernahm. «Wir sind also seit hundert Jahren da», sagt die Eierfrau, deren Bruder nebenan Gemüse verkauft, «und der Markt wird immer bunter und besser.» Er biete den Menschen, die hier einkaufen, nicht nur billige und frische Waren, sondern «auch eine halbe Stunde lang das Gefühl, wieder in der Heimat zu sein». Die HändlerInnen, schätzt sie, kommen aus fünfzig verschiedenen Ländern – mehrere Dutzend aus Asien, viele aus der Karibik, vielleicht zwanzig aus Ost- und aus Westafrika und immer mehr aus Osteuropa. Und dann seien da halt noch Alteingesessene wie sie, wie Neil und «wie Terry, dessen jüdische Familie da hinten seit Jahrzehnten einen Gardinenstand führt». Die Gemeinschaft funktioniere prächtig, man harmoniere gut, rassistische Ausfälle habe es seit langem nicht mehr gegeben. «Und deswegen verstehe ich nicht, weshalb der Stadtrat von Newham uns plattmachen will.»

Robbin der Räuber

Sir Robin Wales, Bürgermeister von Newham, ist derzeit wohl der bestgehasste Mann in den endlos langen Reihenhauszeilen rund um Queens Market. Denn Wales – den viele nur Sir Robbin, den Räuber, nennen – will den Markt loswerden. Er sei ein Schandfleck für die Gemeinde, die 2012 die Olympischen Spiele beherbergt, sagt Wales, der keine Interviews zum Thema Queens Market gibt.

Im Jahr 2000 gab die von ihm kontrollierte Verwaltung eine Studie in Auftrag. Ziel: eine Aufwertung des Quartiers. 2004 traf der Gemeinderat (damals gehörten von 60 Ratsmitgliedern 59 der Labourpartei an) die Entscheidung, den Markt durch eine neue Überbauung zu ersetzen – mit 220 Luxuswohnungen, Parkplätzen, einer Bücherei und einem fast 5000 Quadratmeter grossen Supermarkt. Parallel dazu beauftragte der Rat St. Modwen Properties, ein in Birmingham ansässiges Erschliessungsunternehmen, die Planung voranzutreiben. Kurz danach legte der Bauträger ein 170-Millionen-Franken-Projekt vor, in dem nicht einmal ein Drittel der bisherigen Marktstände und -läden Platz haben wird.

Dafür hatte das Unternehmen, das derzeit achtzehn weitere «Stadtentwicklungsprojekte» betreibt, einen dicken Fisch an der Angel: Asda, seit 1999 Tochterfirma des weltgrössten Einzelshandelskonzerns Wal-Mart und mit rund 300 Supercentern, Superstores, Centern und über 150.000 Beschäftigten die zweitgrösste Supermarktkette des Landes, interessierte sich für das Projekt. Man werde hier nun endlich ein Einkaufszentrum hinstellen, das seinesgleichen suche, jubilierte Sir Wales – und unterzeichnete im März 2006 einen auf 99 Jahre angelegten Pachtvertrag mit St. Modwen. Die Labourmitglieder des Gemeinderats hatten das Projekt abgenickt. Und das, obwohl eine Meinungsumfrage der Stadtverwaltung eine breite Opposition in der Bevölkerung registrierte (fast zwei Drittel der Befragten sprachen sich gegen einen Supermarkt aus). Und obwohl die 2003 gegründete Initiative Friends of Queens Market dem Rat 12.000 Unterschriften für eine Beibehaltung des Marktes vorgelegt hatte.

Aufruf gegen Labour

Eine von denen, die sich seit drei Jahren den Plänen der Stadtverwaltung widersetzten, ist Pauline Rowe. Die Rentnerin, sie war früher im öffentlichen Dienst beschäftigt, kauft auf dem Markt ein, seit sie in East Ham lebt. Dreissig Jahre lang schon kommt sie jeden zweiten Tag hierher: «Ich esse gern und bekomme hier frische Lebensmittel zu einem guten Preis», sagt die Frau, die sich als «Sozialistin von der alten Sorte» beschreibt. Ausserdem liebe sie den Gemeinschaftssinn. Wo sonst, fragt sie, «gibt es das heute noch, dass man anschreiben lassen kann? Oder dass die Händler am Ende des Tages ihre Ware an die Ärmsten verschenken, weil sie wissen, wie schlecht es ihnen geht?» Und wo könnte sich einer durchschlagen «wie Peter, den ein Familiendrama aus der Bahn geworfen hat und der nun von allen aufgefangen wird», indem die HändlerInnen ihm immer wieder Aushilfstätigkeiten anbieten? «Der käme bei einem Supermarkt nicht einmal an den Wachleuten vorbei.»

Natürlich müsse der Markt renoviert werden, sagt Rowe – die Beleuchtung ist miserabel, das Dach über den Ständen leckt, überall liegt Müll, weil zu wenig Abfallkübel vorhanden sind und «weil die städtische Verwaltung den Markt absichtlich vernachlässigt». Dabei brächten die Stand- und Ladenmieten abzüglich der Unterhaltskosten umgerechnet zwei Millionen Franken im Jahr in die Gemeindekasse.

Pauline Rowe und ihre MitstreiterInnen von Friends of Queens Market haben Unterschriften gesammelt, LeserInnenbriefe geschrieben, Abgeordnete angerufen, Medien informiert, mit Londons Oberbürgermeister Ken Livingstone gesprochen und bei der letzten Kommunalwahl im Mai 2006 einen Appell lanciert: «Rettet Queens Market, wählt nicht Labour». Sie habe den Aufruf selbst nicht gut gefunden, weil er die Bewegung spalten könnte. Doch zur Spaltung kam es nicht: «Selbst die eher unpolitischen Händler haben begeistert mitgemacht.»

Asif Karim, Besitzer von zwei Sariläden an der Green Street, hatte bei der Kommunalwahl für das linke Wahlbündnis Respect kandidiert. «Ich war völlig verblüfft, dass ich gewählt wurde.» Und nicht nur er: Im Wahlbezirk Green Street gewann Respect alle drei Mandate. «Wir haben vor allem gegen die Irakpolitik der Labourregierung argumentiert», sagt er, «aber unser Engagement für die Erhaltung des Markts spielte ebenfalls eine grosse Rolle.»

Die Studie der Linken

Für Furore sorgte im Juni dann die Veröffentlichung einer Studie der New Economics Foundation (Nef), die von den Friends of Queens Market um Unterstützung und Argumentationshilfe gebeten worden war. In ihrem Bericht, der sich auf detaillierte Analysen und Umfragen stützt, kamen die linken ÖkonomInnen zu einer Reihe von Schlussfolgerungen:

– Die auf Queens Market verkauften Waren sind im Durchschnitt um 53 Prozent billiger als in den angeblich superbilligen Asda-Wal-Mart-Supermärkten.

– Achtzig Prozent der Befragten sagen, dass sie hier Waren und Lebensmittel kaufen können, die sie sonst nirgendwo finden.

– Queens Market dient der Gemeinschaft vor Ort, da der Umsatz in Höhe von umgerechnet dreissig Millionen Franken im lokalen Wirtschaftskreislauf bleibt und nicht an Konzernzentralen abfliesst.

– Queens Market bietet, auf die Fläche umgerechnet, doppelt so vielen Menschen Beschäftigung wie ein Supermarkt.

– Queens Market ermöglicht den auf dem Arbeitsmarkt benachteiligten ImmigrantInnen einen Einstieg ins Erwerbsleben, den sie sonst kaum hätten. Ein Viertel aller HändlerInnen hat erst innerhalb der letzten fünf Jahre dort einen Stand eröffnet.

– Newham ist eine «Lebensmittelwüste». Viele Arme geben überdurchschnittlich viel Geld für Essen aus, weil es in der dicht besiedelten Gemeinde zu wenige Einkaufsmöglichkeiten gibt.

Anders formuliert: Wenn es irgendwo einen funktionierenden Markt gibt mit all den Vorzügen, die einem die Neoliberalen und die BlairistInnen sei Jahren versprechen, mit Wettbewerb und Handel, mit KundInnenkontakt und KonsumentInnenmacht, mit offener Preisgestaltung, Mitsprachemöglichkeiten und zum Nutzen der betroffenen Bevölkerung – dann hier.

Der Rückzieher

Vielleicht war es die beharrliche Arbeit von Pauline, Julie, Neil, Eddie, Asif und den anderen; vielleicht war es die vorwiegend freundliche Berichterstattung in vielen Medien, die sich das Thema David (die HändlerInnen und ihre KundInnen) gegen Goliath (Wal-Mart) nicht entgehen liessen; vielleicht spielte auch die Studie der WirtschaftswissenschaftlerInnen von Nef eine Rolle, die ein erhebliches Medienecho hervorrief – jedenfalls zog sich Wal-Mart zurück. Der weltgrösste Einzelhandelskonzern ist nun doch nicht mehr an dem Standort an der Green Street interessiert. Damit stehen Bauträger St. Modwen und die BlairistInnen von Newham ohne den erhofften grossen Mieter da.

«Die haben wohl zu viele Probleme auf sich zukommen sehen», sagt Neil Stockwell, der sich kurz zuvor in dem Anti-Wal-Mart-Dokumentarfilm «High Cost of Low Price» bestaunte, für den er interviewt worden war. Nicht nur in Britannien hätten die Gewerkschaften Wal-Mart ziemlich eingeheizt. Aber er sei doch erleichtert. Seit vier Jahren habe er sich Sorgen gemacht und sich jeden Tag gefragt, wie er seine Hypothek abzahlen solle, wenn der Markt schliesst, seit vier Jahren habe er keine Ferien mehr gemacht.

Und was ist, wenn nun St. Modwen und die Labourverwaltung einen neuen Interessenten finden? «Wir haben bisher mit einem Schwergewicht gekämpft», sagt Stockwell. «Wenn du einen Kampf mit Mike Tyson überstanden hast, dann nimmst du es auch mit einem Leichtgewicht auf.» Pauline Rowe ist ebenfalls verhalten optimistisch: «Wir verlangen ja nicht viel», sagt sie. «Es gibt in London viele Kirchen, die auf wertvollem Grund stehen und die trotzdem niemand infrage stellt, obwohl kaum jemand in ihnen betet.» Die Kirchen seien der kapitalistischen Ordnung nicht unterworfen. «Warum soll das nicht auch für einen Markt gelten, der ebenso viel Kultur repräsentiert, vielleicht noch mehr», fragte sie in einem der Marktcafés, während draussen eine Stimme dröhnt: «Zwei Pfund vierzig, Darling. What a lovely day, isn't it?» (pw)