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Britannien: Das Europäische Sozialforum in London

Very British, aber mit vielen Plänen

21. Oktober 2004 | Durchgeknallte Linke, dubiose Vorbereitung, viel Blabla. Und doch war am Europäischen Sozialforum die Begeisterung für eine «andere Welt» vorhanden.

«Und dann wollen wir uns noch bei all jenen bedanken, die aus Europa angereist waren, um am Londoner Sozialforum teilzunehmen.» Diese Schlussbemerkung der OrganisatorInnen traf die Sache im Kern: Das dritte Europäische Sozialforum (ESF) war insgesamt betrachtet eine sehr britische Angelegenheit.

Das demonstrierte zum Beispiel eine halbe Hundertschaft reichlich durchgeknallter Linker (vorwiegend britische TrotzkistInnen), die ein Forum sprengten, das zum Kampf gegen die Okkupation des Irak mobilisieren sollte. Der auf dem Podium sitzende Vertreter eines irakischen Gewerkschaftsbundes sei ein «Lakai des Imperialismus» und habe «Blut an den Händen», riefen sie. Den Beweis für die Behauptung blieben sie freilich schuldig, sie wollten darüber auch nicht diskutieren und ignorierten lautstark den Wunsch der über tausend Anwesenden, die sich mit grosser Mehrheit für eine Debatte aussprachen.

Sie zogen erst davon, nachdem die VeranstalterInnen das Plenum für beendet erklärt hatten - und freuten sich über ihren Erfolg. Eine wichtige Schlacht war geschlagen, der Feind besiegt. So ist das immer wieder hier: In Ermangelung eines Winterpalastes stürmt ein Teil der Linken mitunter auch linke Veranstaltungen.

Very British und kaum im Sinne eines Forums, das vor allem der grenzüberschreitenden Verständigung dienen sollte, waren auch die oft in rasendem Tempo vorgetragenen, nicht selten formelhaften Reden der britischen Politprofis, die die meisten DolmetscherInnen ratlos verstummen liessen. Wer kein Englisch kann, ist selber schuld, oder? Auch dass bei der Planung des ESF «keine Transparenz» vorhanden war (dies kritisierten selbst Organisationen wie Greenpeace und Oxfam) und SponsorInnen wie Londons Bürgermeister Ken Livingstone (seine Verwaltung schoss rund eine Million Franken zu) und einige Gewerkschaften über Gebühr Einfluss nahmen, kommt nicht von ungefähr – ein Teil der britischen Linken dominiert gern die Debatte, wenn sich die Möglichkeit dazu bietet.

Auch die Diskussionen liessen zu wünschen übrig: Allzu oft bekräftigten die RednerInnen (nicht nur die britischen) längst bekannte Positionen (gegen Krieg, gegen Rassismus, gegen Privatisierung, gegen Umweltzerstörung), allzu selten analysierten sie die Schwachstellen der neoliberalen Gegenseite. Wie gewinnen wir die Bevölkerung, wo und wie verunsichern wir AktionärInnen, an welchen Punkten können wir Regierungen (und die EU) zum Einlenken zwingen? Und wie kann das nächste ESF vorbereitet, strukturiert und inhaltlich angereichert werden, ohne dass es seine Vielfalt, seine identitätsstiftende Funktion, seinen Forumscharakter und das Engagement der TeilnehmerInnen verliert?

Denn die Begeisterung für den Kampf und für eine «andere Welt» ist immer noch vorhanden, das hat London gezeigt. Und das erkennen auch immer mehr Gewerkschaften. So war es kein Zufall, dass Unison und Ver.di, die grössten Gewerkschaften in Britannien und Deutschland, das ESF wählten, um ihre enge Zusammenarbeit bekannt zu geben. Sie wollen künftig gemeinsam und mit den sozialen Bewegungen den Service public verteidigen, gegen multinationale Konzerne vorgehen und Streikaktionen koordinieren. Eine solche Kooperation hat es bisher nicht gegeben.

Rund 25.000 Menschen (vorwiegend Jugendliche) aus über siebzig Ländern waren in London zusammengekommen, an der ESF-Abschlussdemonstration beteiligten sich nach Schätzung der britischen Tageszeitung «Guardian» bis zu 70.000 Leute. Damit lag die Zahl der TeilnehmerInnen unter der der bisherigen Sozialforen in Florenz (2002) und Paris (2003).

Verliert also die Idee eines grenzüberschreitenden Forums an Zugkraft? Nicht unbedingt – und gewiss dann nicht, wenn die internationale Zusammenarbeit wieder in den Vordergrund rückt, wenn beispielsweise der französische Vorschlag eines Netzes von Gats-freien Zonen auf Gemeindeebene auch über Frankreich hinaus um sich greift (Gats ist das Kürzel für die von der WTO geplante Liberalisierung fast aller Dienstleistungen).

Und wenn es den Bewegungen zum Beispiel gelingt, eine breite Opposition gegen die von der EU-Kommission verabschiedete Dienstleistungsrichtlinie auf die Beine zu stellen, mit der praktisch alle nationalstaatlichen Arbeits-, Sozial-, Steuer- und Umweltgesetze im Dienstleistungsbereich ausgehebelt werden können. (Das Londoner ESF hatte die Debatte darüber allerdings ausgelagert; es gab nur zwei Veranstaltungen zu diesem Thema – eine in der Innenstadt, weit weg vom zentralen Veranstaltungsort, eine weitere in einem Zelt abseits.) Gegen diese EU-Richtlinie wollen die Bewegungen im November demonstrieren.

Und am nächsten Europäischen Sozialforum wird sowieso alles anders und möglicherweise besser: In Athen (Frühling 2006) finden vielleicht auch die südost- und osteuropäischen Bewegungen etwas mehr Gehör. (pw)