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Britannien: Mitgliederverluste bei New Labour
Tony Blair stellt sich selbst ein Bein
25. Juli 2002 | Dem Regierungschef gelingt ein kleiner Sieg über den Londoner Oberbürgermeister Ken Livingstone. Das hilft der Partei allerdings nicht weiter.
Charles Clarke, Präsident der britischen Labour-Partei, hat gute Arbeit geleistet. Das ganze Wochenende über hat er getan, was Parteiobere tun, um wankelmütige Mitglieder unter Druck zu setzen. Er hat gewarnt und gedroht, gelobt und versprochen und schliesslich einen schönen Erfolg errungen, der ihm sicher einen warmen Händedruck seines Parteivorsitzenden Tony Blair beschert. Am Dienstag dieser Woche hat das nationale Vorstandskomitee der Partei – ihm gehören nur ehrenamtlich tätige Mitglieder an – mit siebzehn zu dreizehn Stimmen beschlossen, den Antrag von Ken Livingstone auf Wiederaufnahme in die Partei abzulehnen.
Lange Zeit hatte es so ausgesehen, als würde nun sogar der eigene Parteivorstand dem Premierminister Paroli bieten und dem Oberbürgermeister von London das Parteibuch zurückgeben. Doch Clarke konnte diese drohende Niederlage für die New-Labour-Spitze noch einmal abwenden. Livingstone war im April 2000 satzungsgemäss aus der Partei ausgeschlossen worden, weil er bei der Bürgermeisterwahl gegen den mit vielen Tricks zum offiziellen Labour-Mann gekürten Frank Dobson angetreten war. Im darauf folgenden Mai gewann der populäre Linke mit grosser Mehrheit die Wahl; Dobson landete abgeschlagen auf Platz drei.
Der Sturz des Adlaten
Mit dem Vorstandsbeschluss konnte Blair erstmals einen Sieg über Livingstone erzielen. Die Freude dürfte jedoch von kurzer Dauer sein. Denn nun wird Livingstone bei der nächsten Bürgermeisterwahl in zwei Jahren wieder als Unabhängiger antreten – und wohl wieder gewinnen. Damit stehen Labours Basisorganisationen in London weiterhin in einem Loyalitätskonflikt: Sie hatten sich schon vor zwei Jahren für Livingstone stark gemacht und auch jetzt vehement für seine Wiederaufnahme plädiert. Aber immerhin blieb Blair auf diese Weise die zweite Schmach innerhalb einer Woche erspart.
Am letzten Mittwoch wurde nämlich bekannt, dass sein Lieblingsgewerkschafter, der Ober-Blairist Sir Ken Jackson, die Wiederwahl als Kovorsitzender der Gewerkschaft Amicus knapp verpasst hatte. Amicus – warum müssen sich eigentlich Gewerkschaften ebenso bescheuerte Namen geben wie all die smarten Unternehmen, die ihre Herkunft vertuschen wollen? – ist seit der Fusion der konservativen Metallfacharbeiter- und Elektrikergewerkschaft AEEU mit der konfliktfreudigeren Angestelltengewerkschaft MSF die zweitgrösste Trade Union (1,1 Millionen Mitglieder).
Sir Jackson war lange Zeit und unumstritten Chef der AEEU gewesen und hatte Blair stets unterstützt. So auch im Jahre 2000, als Labour über den Parteikandidaten für die Londoner Oberbürgermeisterwahl entschied. Während alle anderen Gewerkschaften ihre Mitglieder befragten und danach für Livingstone votierten, hat Jackson in gewohnt selbstherrlicher Manier alle Forderungen nach einer Basisbefragung abgelehnt und Blairs Kandidat Dobson mit auf das Schild gehoben. Da in seinem Fall nur die AEEU-Mitglieder stimmberechtigt waren, schien seine Wiederwahl sicher. Doch er verlor – und das noch gegen einen linken Nobody aus der Provinz. Derek Simpson, dem neuen Kovorsitzenden von Amicus, haben vor allem zwei Faktoren geholfen: Erstens kritisiert er seit langem die Regierung wegen deren Privatisierungs- und Antigewerkschaftspolitik. Zweitens hatte sich die Parteispitze mit Verve für Sir Jackson eingesetzt. Der Schuss ging nach hinten los.
140.000 Mitglieder weniger
Jacksons Abwahl bildet den vorläufigen Höhepunkt eines Trends, der gleich zu Beginn von Labours zweiter Amtszeit einsetzte. Die Gewerkschaftsbasis mag die alten Sprüche von Sozialpartnerschaft und vom kleineren Übel New Labour nicht mehr hören – zu lange schon haben sie mit ihren Beiträgen eine Regierung alimentiert, die weiterhin öffentliche Dienstleistungen privatisiert und nicht daran denkt, das von Margaret Thatcher verordnete Zwangskorsett für die Beschäftigten zu lockern. Sie weiss, dass Blair zusammen mit Silvio Berlusconi (Italien) und José María Aznar (Spanien) nun auch in Europa den Arbeitsmarkt weiter flexibilisieren will. Sie erfährt tagtäglich, was es bedeutet, wenn ganze Abteilungen des Service public an Privatunternehmen verhökert werden und die Löhne sinken. Deswegen konnten linke Kritiker der Regierungspolitik alle Gewerkschaftswahlen gewinnen, deswegen legen die Beschäftigten gleich massenhaft die Arbeit nieder. Der Streik der öffentlich Bediensteten am vergangenen Mittwoch (rund eine Million Beschäftigte beteiligten sich am Ausstand) war die grösste Protestaktion seit dem Bergarbeiterstreik 1984-1985.
All diesen Unmut hat Tony Blair ignorieren können. Anfang dieser Woche wurde jedoch bekannt, dass seine Partei kurz vor der Pleite steht: Er sitzt auf einem Schuldenberg von über sechs Millionen Pfund. Zehn Millionen Euro sind viel Geld, wenn einem die Basis davonläuft. Labour hat innerhalb der letzten zwei Jahre 140.000 BeitragszahlerInnen verloren; über ein Drittel der ehemals 400.000 Mitglieder hat sich verabschiedet. Auch die Beiträge aus den Gewerkschaftskassen fliessen spärlicher. Bisher haben drei grosse Gewerkschaften ihre Zahlungen an Labour aus Protest gegen die Regierungspolitik um über eine Million Pfund pro Jahr gekürzt. Und auch Amicus, die 2001, zu Sir Jacksons Zeiten also, zwei Millionen Pfund in Blairs Wahlkampftopf warf, will jetzt ihre Spendenpolitik neu überdenken.
Noch hält Blair an seinem Kurs fest. So setzen er und Schatzkanzler Gordon Brown weiterhin auf die Teilprivatisierung der Londoner U-Bahn, allen Widrigkeiten zum Trotz. Oberbürgermeister Livingstone kämpft hingegen gegen das Privatisierungskonzept und hat erst diese Woche erneut Klage eingereicht; ausserdem legten letzten Donnerstag die U-Bahn-Beschäftigten das gesamte U-Bahn-Netz lahm, weil sie eine Aushöhlung der Sicherheitsstandards befürchten. Weitere Kampfmassnahmen sind geplant. Doch Blair schaut immer häufiger über die Schulter: Seitdem sein Erzrivale Brown im letzten Haushalt massive Investitionen im öffentlichen Bereich durchsetzen konnte, haben die Gewerkschaften einen neuen Helden. Und der heisst nicht Blair. (pw)