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Britische Bahnen: Freche Bankrotteure, hilfsbereiter Staat
Das Milliardengrab der Privatisierung
25. Oktober 2001 | Noch immer bekommen die britischen Eisenbahnen Geld vom Staat. Der zahlt längst mehr als vor der Privatisierung. Aber besser ist der Service nicht geworden – im Gegenteil.
Zugegeben, wir waren etwas in Eile, denn das Flugzeug hatte sich arg verspätet und wir wurden in drei Stunden an einem Ort erwartet, den die Frau am Ticketschalter nicht einmal kannte. «Whiston?», fragte sie. Da müsse man erst einen «Reiseplan» erstellen lassen – und das obwohl Whiston nur zwanzig Kilometer von Manchester entfernt liegt. Nach Whiston? «16.08 Uhr, Bahnsteig 14», erzählte dann der Mann am Informationsschalter des Bahnhofs Manchester Picadilly, «nehmen Sie den Zug nach Liverpool, dort haben Sie um 17.11 Uhr Anschluss.» Nach Liverpool? Whiston liegt doch auf halber Strecke zwischen Manchester und Liverpool. «Das ist der beste Weg», beharrte er. Zurück ans Ende der Fahrkartenschalterschlange, rauf die Treppe, die anderen Gleise überquert und runter in die Menschenmenge am Perron 14. «Liverpool Lime Street, 16.08, on time», zeigte der Monitor an; der Zug sollte also pünktlich abfahren. Genug Zeit für die Reise, wir würden ja erst um 19 Uhr abgeholt.
Um 16.15 Uhr zeigte der Monitor immer noch «Liverpool: on time». Dann schepperte eine unverständliche Stimme aus dem Lautsprecher, Wartende schauten andere Wartende fragend an, zwei Triebwagen dieselten heran, manche griffen schon nach ihren Taschen, da wechselte der Bildschirm über dem Bahnsteig 14 die Botschaft – dieser Zug sei «not for public use», «nicht für die öffentliche Nutzung bestimmt». Fünf Minuten brummten die Waggons, dann wurden sie weggestellt. Gleichzeitig informierte der Bildschirm, die Liverpool-Verbindung sei gestrichen worden («cancelled»), und kündigte einen Zug nach Blackpool an. Der traf auch ein, der Bahnsteig leerte sich etwas, die Fahrgäste auf dem Weg ins nordenglische Seebad verstauten ihr Gepäck und liessen sich auf den Sitzen nieder. Statt des erwarteten Pfiffs kam zehn Minuten später eine Zugdurchsage, alle erhoben sich und stiegen wieder aus. Nun fuhr dieser Zug plötzlich nach Llandudno in Nordwales. Ihm folgte bald ein weiterer Triebwagen nach Llandudno. Dafür wurde für den Zug nach Blackpool eine Verspätung signalisiert und der 16.38er nach Liverpool gestrichen.
«Die Briten sind ja genauso geduldig wie die Russen», staunte die Begleiterin angesichts der schulterzuckenden Friedfertigkeit, mit der die Menge die raschen Fahrplanwechsel hinnahm. Ganz so lethargisch sind aber nicht alle – nach einer vor kurzem veröffentlichten Untersuchung der Bahnregulierungsbehörde haben Gewalttaten auf den britischen Bahnhöfen erheblich zugenommen; viele finden auf unbesetzten Stationen statt, aber auch das Bahnpersonal wird zunehmend Ziel tätlicher Übergriffe. Eine weitere Studie registrierte die psychischen Folgen der permanenten Unpünktlichkeit – der Weg zum Arbeitsplatz ist mittlerweile so stressbehaftet wie die Arbeit selbst.
Die Zerschlagung von British Rail
So reist man also, seit die konservative Regierung Mitte der neunziger Jahre die Staatsbahn British Rail in über hundert Einzelgesellschaften zerschlug und privatisierte. Mit dem Erlös finanzierten die Tories Steuergeschenke in der Hoffnung, die Wahlniederlage doch noch abwenden zu können (es hat nichts genutzt); in der Öffentlichkeit aber hausierten sie mit den üblichen Sprüchen von «mehr Effizienz», «mehr Kundennähe», «weniger Staatsausgaben». Dass die Konservativen bei der Umstrukturierung ausserordentlich stümperhaft vorgingen, bestreiten heute nicht einmal die entschiedensten BefürworterInnen der damaligen Privatisierung. Die Zerlegung von British Rail in die Infrastruktur-Firma Railtrack (zuständig für Gleisanlagen und Bahnhöfe), in 25 regionale Bahnbetriebsgesellschaften und in 70 weitere Privatunternehmen im Gleisbau-, Catering- und Cargobereich stürzte das britische Bahnwesen innerhalb kurzer Zeit ins Chaos.
Die Privatfirmen feierten die Übernahme mit einer Entlassungsorgie, die Börse jubelte die Kurse hoch, die Bahnunternehmen hatten nur Profite im Blick. Jede Bahngesellschaft bastelte an eigenen Fahrplänen, während Railtrack die Wartungsarbeiten an Unterfirmen vergab, die wiederum Subunternehmen beauftragten. Die von den Tories installierte Regulierungsbehörde liess die Firmen lange gewähren; als sie dann regulierte und beispielsweise Verspätungen bestrafte, wurde das Durcheinander noch grösser. Denn wer ist schuld für die vielen Verspätungen? Railtrack mit ihrem maroden Schienennetz oder die Bahnbetreiber mit dem oft altertümlichen Rollmaterial? Statt zu kooperieren, reichten die Firmen die Bussbescheide weiter und schauten nur auf sich mit der Folge, dass der letzte Anschlusszug am Abend auch dann pünktlich davonratterte, wenn der leicht verspätete Intercity gerade einfuhr. Das Grundübel, das schon die staatliche British Rail geplagt hatte, blieb jedoch: Niemand investierte in den Schienenverkehr. Zuallerletzt Railtrack.
1997 kam es bei Southall nahe London zum ersten Unglück nach der Privatisierung, weil die maroden Sicherheitsanlagen versagt hatten (2 Tote). 1999 folgte die Katastrophe von Paddington (31 Tote), weil ein schlecht ausgebildeter Lokführer ein nur schlecht sichtbares Signal überfuhr – andere Lokführer hatten Railtrack vergeblich darauf aufmerksam gemacht. Vergangenen Oktober schliesslich entgleiste ein Zug bei Hatfield (4 Tote), weil die Schiene brüchig geworden war. Gleisarbeiter hatten Railtrack bereits im Februar 2000 darauf hingewiesen, doch Reparaturarbeiten und damit einhergehende Verzögerungen hätten Geld und Bussen gekostet.
Die Abfahrt
Der Bahnsteig füllte sich beständig. Früher waren die Pubs der zentrale gesellschaftliche Treffpunkt gewesen, heute sind es wohl die Bahnhöfe. «Was hat er gesagt?», können da alle ihre NachbarInnen fragen, wenn der Lautsprecher knarrt, oder müde stöhnen, wenn – wie gerade – die Abfahrtsanzeige («Liverpool Lime Street, 17. 08») von «on time» auf «cancelled» wechselt. Eine Viertelstunde später kam jedoch Bewegung in die Menge, viele strömten ans andere Ende des Bahnsteigs, die beiden Waggons mit dem Richtungsanzeiger «Liverpool» hinter der Frontscheibe waren ruckzuck voll, und nach zehn Minuten setzte sich der Zug sogar in Bewegung – um kurz danach im Bahnhof Manchester Oxford Road einen längeren Halt einzulegen.
Ein Grund war nicht erkennbar. Der Lokführer konnte nicht «verschlafen» haben (so rechtfertigen Bahngesellschaften gern ihre dünne Personaldecke) – der sass ja vorne. Weder war der Treibstoff ausgegangen (so was kommt vor), noch musste ein Mechaniker (wie so oft) Wasser ins lecke Kühlsystem kippen. Nein, nur eine kleine Störung. «Reisende nach Liverpool nehmen mit Vorteil den Direktzug ab Bahnsteig 3», knarrte der Zuglautsprecher nach fünf Minuten. Im selben Moment aber schlugen alle Türen zu, und unser Zug brummte davon.
Die Kosten explodieren
Billig war die Privatisierung nicht gewesen, aber profitabel. In den fünf Jahren seit Railtracks Börsengang hat der Schatzkanzler umgerechnet 36 Milliarden Franken Steuergelder an Railtrack überwiesen, weit mehr, als British Rail in einem vergleichbaren Zeitraum je erhalten hat. Der Zuschuss sei notwendig, argumentierte die Regierung, um die lange Zeit vernachlässigte Infrastruktur zu verbessern. Doch die Gleise blieben verlottert und die Signalanlagen störungsanfällig; Reparaturen wurden nur notdürftig ausgeführt. Im gleichen Zeitraum zahlte das Unternehmen seinen rund 250.000 AktionärInnen – darunter viele Railtrack-Beschäftigte – 1,2 Milliarden Euro Dividende aus. Auch die Manager wurden fürstlich entlohnt und abgefunden; der nach dem Hatfield-Desaster zurückgetretene Railtrack-Chef Gerald Corbett – er galt allgemein als Fehlbesetzung – erhielt eine Abfindung in Höhe von umgerechnet 1,6 Millionen Euro.
Hatfield brach Railtrack das Genick. Eine Überprüfung des Schienennetzes ergab zahllose Gleisbrüche, die nun unvermeidlichen Reparaturen führten zum Fiasko, zahllose Züge wurden gestrichen, stundenlange Verspätungen waren die Norm, die Reise mit der Bahn geriet zum Lotteriespiel. 1,6 Milliarden Franken kostete das Unglück (inklusive Entschädigung für die Bahnbetreiber). Trotzdem zahlte Railtrack in diesem Frühjahr 290 Millionen Euro Dividende aus und hielt noch einmal die Hand auf: Im Mai überwies die Regierung weitere 2,8 Milliarden Euro – mehr, als das Unternehmen an der Börse wert ist. Dabei hatte sich das Verkehrsministerium letztes Jahr schon verpflichtet, für die Sanierung des Bahnwesens im Laufe der nächsten zehn Jahre 55 Milliarden Euro bereitzustellen; weitere 55 Milliarden wollte Railtrack auf dem Kapitalmarkt besorgen. Doch nicht einmal diese Summen dürften genügen. Allein die Kosten für die dringend notwendige Erneuerung der Westküstenlinie (London-Manchester/Liverpool-Glasgow) gerieten völlig ausser Kontrolle, das unbedarfte Railtrack-Management hatte erst 3,9 Milliarden Euro veranschlagt, vergangenen April lag die Schätzung bei 11,5, mittlerweile wird mit 18 Milliarden gerechnet.
Inkompetente Rechnungsführung, überfordertes Controlling, operationelles Durcheinander, Selbstbedienung und Hatfield führten die Firma in die Pleite. Im Sommer forderte sie erneut fünf Milliarden vom Staat, doch der war in dieser Frage nicht mehr handlungsfähig. Tony Blair hatte schon im Frühjahr nur mit Mühe die von den Gewerkschaften vehement vertretene und von der Bevölkerung zu drei Vierteln unterstützte Forderung nach Wiederverstaatlichung ablehnen können. Vor zwei Wochen nun stellte Verkehrsminister Stephen Byers die mit 5,8 Milliarden Euro verschuldete Firma unter Zwangsverwaltung. Obwohl die Regierung gleichzeitig versicherte, für die Schulden aufzukommen, brach in der Londoner City ein Sturm der Entrüstung aus – von «Massaker» und «Eisenbahnraub» war die Rede, gleichzeitig forderten Aktionärsvertreter eine Entschädigung der AnteilseignerInnen. Die von privater Seite aufzubringenden 55 Milliarden könne man nun «glatt vergessen», drohten die Financiers. Ein gewinnträchtiges Manöver – für die Kredite wird die neue Schienenfirma (und mit ihr die Regierung) nun mehr bezahlen und garantieren müssen. Zur Beruhigung der Märkte schanzte die Regierung Railtrack auch noch die Neubaustrecke London-Kanaltunnel (Wert: 720 Millionen Euro) zu.
Das neue Modell für die Nachfolgegesellschaft ist schemenhaft erkennbar: Die Regierung plant eine nicht gewinnorientierte Gesellschaft, die teilweise Bahnbetreibern und Frachtspeditionen gehören soll. Eine Überführung in die öffentliche Hand lehnt die Labour-Regierung weiterhin kategorisch ab, dafür sollen Fahrgastverbände und Gewerkschaften ein Mitspracherecht bekommen. Dass die Labour-Spitze eine Vergesellschaftung unbedingt verhindern will, hat neben ideologischen Motiven einen einfachen Grund – derzeit befindet sich die Regierung in der letzten Verhandlungsrunde um die Teilprivatisierung der Londoner U-Bahn. Deren Gleis- und Schienenanlagen sollen für dreissig Jahre aufgesplittet und an drei Konsortien vergeben werden. Für die ersten fünfzehn Jahre hat die Regierung bereits 23 Milliarden Euro Zuschuss versprochen, 10 davon dürften aber nach Berechnung der Londoner Stadtverwaltung direkt in die Taschen der Firmen wandern.
Die Ankunft
Wieder ein längerer Halt, diesmal auf offener Strecke. Es lag nicht die «falsche Sorte Schnee», wie Railtrack so manche Verspätung begründet hat, es gab an dieser Stelle auch kein «Laub auf den Schienen». Wir mussten nur den zuvor avisierten Direktzug passieren lassen. Im hinteren Wagen kreisten Rotweinflaschen, die wohl für eine Party bestimmt gewesen waren. Eine nützliche Reiseverpflegung in diesen Zeiten.
Hinter Manchester rumpelte und hoppelte der Zug durch die Landschaft. War das überhaupt die Strecke nach Liverpool? Manche Züge sollen ja durchs Netz vagabundieren, etliche sind schon verloren gegangen, wie die privaten Bahngesellschaften zugeben mussten. Aber dann tauchte doch Halewood auf, danach die Ford-Fabrik, Aigburth und Liverpool Lime Street. Ankunftszeit: 18.47 Uhr. Dort stellte sich dann heraus, dass der Mann am Informationsschalter von Manchester Picadilly die Direktverbindung nach Whiston einfach unterschlagen hatte. Wen interessieren schon die Züge der anderen Gesellschaften? Wir hätten nur zum zweiten grossen Bahnhof von Manchester wechseln müssen. Ab Victoria fahren halbstündlich Züge nach Whiston – wenn sie denn fahren.
Fast drei Stunden waren wir nun unterwegs. Das ging auch schon mal schneller. Im Jahre 1830 wurde in Liverpool die erste Eisenbahnstrecke der Welt eröffnet. Damals brauchte der Zug für die fünfzig Kilometer nach Manchester rund anderthalb Stunden. (pw)