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DGB: Vor einem «heissen Sommer» der Gewerkschaften?
Lassen wir die Sau raus!
21. Juni 1996 | 350.000 Menschen demonstrierten am letzten Samstag gegen das grosse Umverteilungsprojekt der deutschen Bundesregierung. Ist das der Beginn einer neuen Kampagne? Oder war das schon ihr Höhepunkt?
Zugum Zug, Bus um Bus kamen sie an diesem Samstagmorgen nach Bonn, Rentnerinnen und Punks, Angestellte und Malocher, Arbeitslose und Beamte. Die vielen Jugendlichen und vielen, vielen Frauen kamen nicht vom «Rand der Gesellschaft», wie manche vorher gewarnt hatten, sie kamen auch nicht «aus der gesellschaftlichen Mitte», wie die SPD hinterher sagte – sie kamen von überall her, geographisch wie sozial.
Manche hatten schon am Vorabend den Zug besteigen müssen (viele aus den neuen Bundesländern waren bis zu vierzig Stunden unterwegs), andere fuhren im Motorrad-Konvoi, Zehntausende blieben auf den Autobahnen stecken. Wer die Regierungsstadt erreichte, zog in einem der acht Demonstrationszüge von den Busparkplätzen oder den Bahnhöfen zum Markt, auf den Münsterplatz oder in den Hofgarten. So entstanden die Demonstrationszüge von selbst, viel musste da nicht organisiert werden: Der Menschenstrom mit den kunterbunten Transparenten, Schildern, Gewerkschaftsfahnen und Anarchoflaggen wuchs zuweilen so sehr an, dass die Kennedybrücke über dem Rhein zu schwingen begann.
Im Bonner Hofgarten dann Infostände, Bratwurstbuden, Dönerspiesse, Rockprogramm und natürlich Sonntagsreden. Die «gewerkschaftliche Prominenz», wie sich die SpitzenfunktionärInnen des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) im Organisationsplan zur Demo selber bezeichnet hatten, sollte zu Wort kommen. Doch wegen denen war der Metaller aus dem hohen Norden sicher nicht gekommen: Der Mann wollte Antworten auf die vielen Fragen, die ihn seit langem umtreiben. Zum Beispiel: Ob da jemand einen Weg aus der Krise kenne, was sie in ihrem Betrieb tun könnten, wie es denn jetzt weitergehe. Seine Kollegen hätten nämlich Angst, viele seien deswegen auch nicht hier. Vor kurzem hätten sie «zur Sicherung der Arbeitsplätze» einer Arbeitszeitverkürzung von 35 auf 32 Stunden pro Woche zustimmen müssen, ohne Lohnausgleich natürlich. «Das sind über acht Prozent Lohnsenkung», sagte er, «das können wir bei unserem geringen Lohn da oben im Norden kaum verkraften.»
Bei einem Nettolohn von vielleicht 2500 Mark muss eine Familie ohnehin schon jede Mark umdrehen; wenn dann noch 200 Mark abgehen, ist die Schmerzgrenze erreicht. Der Metaller und seine Kollegen verkörperten sicher nicht die «Elite der deutschen Arbeiterklasse, besorgt um ihren mittelständischen Lebensstil», welche die «Financial Times» im Hofgarten gesehen haben will – hier standen vielmehr Leute, die noch nie viel hatten und das Wenige nun bedroht sehen. Und die nicht zulassen wollen, dass der Sozialstaat – ein Ergebnis des Sonderbooms der fünfziger und sechziger Jahre und eine Folge der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West – einfach massakriert wird, nur weil die Reichen den Mund nicht voll genug kriegen können.
Aber wie weiter? Der DGB-Vorsitzende Dieter Schulte sprach vom «Frieden im Innern», der jetzt gefährdet sei. Er warnte die Unternehmer vor dem «gesellschaftlichen Grosskonflikt, für den sie die Verantwortung tragen», er mahnte («werden Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst!»), er versprach Zusammenarbeit («wir wollen diese Republik, unseren Staat weiter mitgestalten»), und er gelobte: «Wir wollen das Bündnis für Arbeit nach wie vor.» Schulte zog alle Register, er drohte, er appellierte, er flehte. Doch die Fragen des norddeutschen Metallers beantwortete er genauso wenig wie die nachfolgenden RednerInnen.
Der Druck von unten
Vom Podium her gesehen war die Veranstaltung eine grosse konservativ-sozialdemokratische Manifestation der Sozialpartnerschaft. Die RednerInnen erhoben ihre Zeigefinger gen Bundeskanzleramt; auch die Solidaritätsadressen waren sorgfältig ausgelesen: die SPD durfte grüssen, die Grünen, die Christlich-Demokratische Arbeiternehmerschaft, der Katholische Arbeitnehmerverband. Über die PDS hingegen, die etwa im Osten mächtig für die Demonstration mobilisiert hatte, war auf dem Podium kein Wort zu hören. Auch das bunte Bündnis «Sternmarsch gegen Sozialabbau» (ein Zusammenschluss von linken Parteien, Antifa-Komitees, antirassistischen Vereinigungen, Arbeitslosenverband, StudentInnengruppen, Organisationen ausländischer Beschäftigter, linken GewerkschafterInnen und einem «revolutionären Block») war der «gewerkschaftlichen Prominenz» keine Erwähnung wert. Im Gegenteil.
Unten sah es aber anders aus – da war nicht von Teilen die Rede, sondern von Druck, nicht von Mahnungen, sondern vom politischen Streik. Man müsse in Deutschland endlich «französische Antworten geben», hiess es in unzähligen Flugblättern unter Hinweis auf die Streiks der französischen KollegInnen Ende letzten Jahres. Druck von unten hatte den DGB überhaupt erst mobilisiert. Da war etwa Ende April die grosse Demonstration der kleinen Gewerkschaften Handel-Banken-Versicherungen (HBV) und Nahrung-Gaststätten-Genussmittel (NGG) gegen die Änderung des Ladenschlusses (mit über 50.000 TeilnehmerInnen kamen doppelt so viele wie erwartet); kurz danach folgten die 1.-Mai-Veranstaltungen im ganzen Land und besonders die 1.-Mai-Kundgebung in Berlin, auf der DGB-Chef Schulte nicht nur fürchterlich ausgepfiffen, sondern auch noch mit Eiern und Tomaten beworfen wurde; und dann entstand schon fast eine Welle an Streiks und Demonstrationen: Im öffentlichen Dienst, bei der Post, in der Papierverarbeitung, bei Versicherungen und Banken war gerade Tarifrunde. Die Proteste gegen die Lohnofferten der Unternehmen mischten sich mit der Empörung über das Programm «zur Sicherung von Wachstum und Beschäftigung», das die Regierung von Helmut Kohl Ende April bekanntgegeben hatte (siehe Spalte nebenan).
Warnstreiks hier, Lohnforderungen da, Demonstrationen gegen Sozialabbau dort – jeden Tag zogen irgendwo Menschen durch die Strassen. Die IG Medien publizierte mehrere Artikel über die Legalität politischer Streiks und vergass auch nicht zu erwähnen, dass der Gesamtarbeitsvertrag in der Druckindustrie Generalstreiks und Demonstrationen während der Arbeitszeit erlaubt (politische Streiks wurden von der bundesdeutschen Gerichtsbarkeit wiederholt für illegal erklärt, obwohl die auch von der Bundesrepublik unterzeichneten Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO solche Kampfmassnahmen ausdrücklich zulassen). Auch die kleine Gewerkschaft Holz und Kunststoff hat sich, so schrieb sie in einer Pressemitteilung, «in ihrer Satzung verpflichtet, den sozialen Rechtsstaat zu verteidigen. Deshalb erkennt sie den politischen Streik auch als Kampfmittel an.» Noch vor einem halben Jahr wären solche Äusserungen undenkbar gewesen.
Auf neoliberalem Glatteis
Soviel Bewegung hatte es schon lange nicht mehr gegeben. Der DGB musste etwas unternehmen, doch den naheliegenden Termin 15. Juni hatte bereits das Bündnis «Sternmarsch gegen Sozialabbau» gebucht. Der DGB bot eine Kooperation an, das Bündnis willigte ein, eine gemeinsame Veranstaltung machte ja auch Sinn; der organisationsstarke DGB versprach Unterstützung (beispielsweise Lautsprecheranlage und Bühne für ein linkes Rockkonzert am Abend der Demonstration) und Mobilisierung. Doch dann tat die DGB- Führung, was sie immer schon am besten konnte: eine Bewegung einholen, sich an die Spitze stellen, und langsam ausbremsen. Zwei Tage vor der Demonstration kündigte der DGB dem Sternmarsch-Bündnis die Zusammenarbeit – «wegen befürchteter Gewerkschaftsfeindlichkeit» (so die «Frankfurter Rundschau»).
Die «Gewerkschaftsfeindlichkeit» bestand – von ein paar eher dümmlichen Flugblättern abgesehen – hauptsächlich in einer fundierten Kritik an der Gewerkschaftsstrategie, vorgetragen von Gewerkschaftsmitgliedern. Das «Bündnis für Arbeit» etwa, das DGB-Chef Schulte am letzten Samstag erneut anbot, war bei BetriebsrätInnen und Vertrauensleuten auf heftigen Widerspruch gestossen. Schliesslich hatte IG-Metall-Vorsitzender Klaus Zwickel mit seinem «Bündnis für Arbeit»-Vorstoss im November letzten Jahres einige grundlegende Erkenntnisse umgestossen.
Die Unternehmerverbände lobten Zwickels Idee (Lohnverzicht und geringere Einstiegslöhne für Langzeitarbeitslose, wenn die Unternehmer zusätzlich Stellen schaffen), hat sich doch damit die grösste Einzelgewerkschaft der Welt auf die Seite der Angebotstheoretiker geschlagen, die bisher ausschliesslich aus der neoliberalen Ecke gekommen waren. Erstmals, freuten sich Kapitalisten und ihre Medien, hätten Gewerkschaften zugegeben, dass es einen Zusammenhang zwischen Lohnhöhe und Arbeitslosigkeit gebe. In der Tat: Zwickels Vorschlag enthält den Kern aller Unternehmer-Argumente – die Arbeitskraft müsse nur billiger angeboten werden, dann finde sie schon AbnehmerInnen.
Das «Bündnis für Arbeit» war ein Medienhit, die Spitzenfunktionäre sonnten sich in den positiven Schlagzeilen, aber die Freude war kurz; die Unternehmerverbände dachten nicht daran, ihrerseits Verpflichtungen einzugehen. Aber sie hatten gesehen, wie weit die Gewerkschaften zu gehen bereit waren und wie schnell sie sich zufriedengaben. So feierte DGB-Chef Schulte im Rahmen einer Kanzlerrunde die Kürzung der Arbeitslosenhilfe um drei Prozent gar als Erfolg (nur weil die Regierung erst fünf Prozent vorgesehen hatte) – aber diese Reduzierung traf ja auch nicht die Stamm-Mitglieder der Gewerkschaften.
Die Beschäftigungskrise hat innerhalb der Gewerkschaftsbewegung einen Diskussionsprozess ausgelöst. FunktionärInnen wie der IG-Medien-Vorsitzende Detlev Hensche fordern seit längerem einen radikalen Wandel in der Gewerkschaftspolitik – weg von den Wachstumserwartungen und der Sozialpartnerschaft, hin zu neuen Utopien und dem verstärkten Kampf um Arbeitszeitverkürzung. Zunehmend lebhafter wird auch die Debatte um das neue DGB-Grundsatzprogramm. Im Entwurf der DGB-Spitze ist zwar – im Unterschied zum alten Programm – vom ökologischen Umbau und den Rechten der Frauen die Rede, doch anstelle einer aktuellen Kapitalismuskritik wimmelt es von Beschwörungsformeln, statt einer Analyse der Machtverhältnisse sucht der DGB den Konsens mit Staat und Unternehmen. So verlangt etwa der Landesvorstand Thüringen der HBV die Verschiebung der für November geplanten Verabschiedung des Programms.
Tatsache ist: Für Reformismus gibt es in der Unternehmeroffensive keinen Spielraum mehr, das vielgepriesene «Modell Deutschland» ist ausgelaufen, die Gewinne steigen, die Arbeitslosigkeit auch. Die Gewerkschaften werden sich radikal umorientieren müssen oder sie verlieren ihre gesellschaftliche Bedeutung. Das ist viel verlangt: Sie müssen das Lohnsystem, in dem sie sich teilweise recht komfortabel eingerichtet hatten, die Marktwirtschaft, die sie stets hochhielten, und ihre eigene Geschichte überprüfen. Wenn sie sich nur auf ihre Kernfunktion beschränken und als Interessenorganisationen der Beschäftigten ausschliesslich die Verteidigung beziehungsweise Verbesserung von Lohn, Gehalt und Arbeitsbedingungen anstreben, werden sie die Doppeloffensive von Staat und Unternehmen nicht parieren können. Denn die wird weitergehen: Abschaffung aller Arbeitsschutzgesetze, Aushöhlung des Tarifsystems, Beseitigung aller Lohnnebenkosten und des Sozialstaates, Arbeitszwang für Arbeitslose, freier Fall der Löhne – das ist die eigentliche Tagesordnung.
Ab ins Vakuum?
Von weitergehenden Aktionen war an diesem Samstag in Bonn nicht die Rede. Das sogenannte Sparpaket soll am 27.Juni vom Bundestag beschlossen werden. Davor werden wohl die SPD-regierten Bundesländer ihre eigenen «Sparpakete» verkünden (die SPD wollte die Demonstration erst verstreichen lassen). Für Ende August ist eine Sondersitzung des Bundestags vorgesehen, auf der dann die erwarteten Einsprüche des SPD-dominierten Bundesrates (der Länderkammer) behandelt werden. Nicht nur deswegen drängt die Zeit: In vielen Bundesländern beginnen demnächst die Schul- und Betriebsferien. Und doch mussten die 350.000 ohne Aktionsplan und ohne Perspektiven zurückreisen. Man werde weiter Druck machen – diese Devise von oben war schon dürftig. Noch steht nicht fest, ob die DGB-Führung ihre Basis absichtlich ins Leere laufen lässt.
Und so fuhr der Metallarbeiter wieder in den hohen Norden, ohne dass eine seiner Fragen beantwortet worden wäre. Aber er hat mit KollegInnen reden können («es ist ja wichtig zu erfahren, was anderswo passiert») und so die Isolation ein wenig durchbrochen. Und vielleicht hat er ja auch einige der Informationen, Ideen, Vorstellungen mitnehmen können, die zuhauf angeboten wurden. Etwa die Überlegung, dass Widerstand hier auch Solidarität mit den Menschen im Süden ist; die Verarmung der Beschäftigten in der Ersten macht die Armen in der Dritten Welt nicht reicher – denn die müssten, bekämen sie Konkurrenz aus den neuen Billiglohnländern im Norden, noch schlechtere Bedingungen hinnehmen. Andere kritisierten das Desinteresse der deutschen Gewerkschaften an den Beschäftigten in prekären Verhältnissen, an MigrantInnen und Flüchtlingen, denn genau sie werden zur Billigkonkurrenz gezwungen.
Die Vielfalt der Positionen und der Gruppen war das wirklich Neue an diesem Samstag: Das Umverteilungsprojekt der Regierung hat eine soziale Bewegung entfacht. Wenn es den Gewerkschaften gelingt, ihre Arroganz und ihren Alleinvertretungsanspruch aufzugeben, dann könnte der 15. Juni ein Schritt nach vorne gewesen sein. Vielleicht fällt es dann einem Helmut Kohl oder einem Arbeitsminister Norbert Blüm auch nicht mehr so leicht, die von ihnen verantwortete Arbeitslosigkeit in schamloser Weise gegen «Arbeitsplatzbesitzer» auszuspielen.
Ein Bündnis, nicht nur gegen Sozialabbau, sondern konsequenterweise auch für ein anderes Gesellschaftsmodell und eine Wirtschaft jenseits der Barbarei des Marktes – das könnte die Gewerkschaften in Schwung bringen. Bunt war die Demonstration jedenfalls, längst nicht alle begnügten sich mit den vorbereiteten Schildern und den offiziellen Parolen. So kommentierte ein schwäbischer Arbeiter auf einem eigenen Plakat die Unternehmerdrohung mit der Abwanderung nicht mit einem der vielen möglichen Argumente, sondern einfach mit einem herrlich zweideutigen Spruch: «Der Boss sagt: ‹Verzichtet – oder ich gehe ins Ausland›. Okay. Lassen wir die Sau raus.» (pw)