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Deutschland: Widerstand gegen Stuttgart 21

Es geht munter weiter

15. Januar 2012 | Drei Mal wurde die Bewegung gegen das Grossprojekt Stuttgart 21 schon totgesagt und mit der Volksabstimmung Ende November hat die Protestbewegung eine politische Niederlage einstecken müssen. Trotzdem hält der Widerstand an. Warum eigentlich?


Kommen sie noch heute? Oder erst morgen? Was hat der Aufmarsch schwarzgekleideter PolizistInnen am Hauptbahnhof zu bedeuten? Warum stehen ein Dutzend Polizeifahrzeuge dort in der Nebenstrasse? Und hatte nicht vor kurzem ein Sondereinsatzkommando der Polizei alles vom Dach des Südflügels geräumt, damit sich dort niemand festketten kann? Über Tage hinweg beschäftigten diese Fragen die GegnerInnen des Immobilien- und Bahnhofsprojekts Stuttgart 21 (S21), denn der Abriss des südlichen Teils des Hauptbahnhofs war längst beschlossene Sache. Nicht weil er für den Baufortgang nötig gewesen wäre (den Bau des neuen Tiefbahnhofs haben Verwaltungsgerichte gestoppt), sondern weil die staatseigene Deutsche Bahn AG (DB) und die Politik Fakten schaffen wollten. Und dann auch Fakten schufen: In der Nacht auf Freitag vergangene Woche räumten 2200 PolizistInnen 600 DemonstrantInnen aus dem Weg. Die Aktion verlief friedlich, wie die wenigen «eingebetteten» ReporterInnen berichteten, die die Polizei zur Beobachtung zugelassen hatte – was aber nicht etwa an einem besonders behutsamen Vorgehen der Staatsgewalt lag, sondern in erster Linie an den seit jeher friedfertigen S21-GegnerInnen, die sich auch durch einen Scheinangriff der Polizei auf das Zeltdorf im benachbarten Schlossgarten nicht provozieren liessen.

«Der Abriss des Südflügels wäre ohnehin nicht zu verhindern gewesen», tröstet sich eine der ParkschützerInnen am Pavillon, der Informationszentrale der Bewegung im Schlossgarten. Ausserdem könne man diesen Teil des eigentlich denkmalgeschützten Bahnhofs ja wieder aufbauen – anders als 176 alten Bäume, die die DB in den nächsten Wochen beseitigen will. Falls sie das überhaupt darf. Denn noch vor Weihnachten hatte ein Verwaltungsgericht der Bahn die Rodung untersagt, weil diese eigenhändig und illegalerweise die Pläne zur Entnahme des Grundwassers geändert hatte. Ohne genehmigtes Grundwassermanagement – die Baugrube des unterirdischen Durchgangsbahnhofs muss grossflächig entwässert werden – dürfen aber die Bäume nicht fallen.

Für die Parkanlage und den harten Kern der Bewegung, die hier ein Zeltdorf und mehrere Baumhäuser errichtet hat, bedeutet diese Entscheidung eine Schonfrist – für die Bahn aber hat ein Wettlauf gegen die Zeit begonnen. Sie muss mit Naturschutzverbänden wie dem Bund für Umwelt und Naturschutz BUND (einem profilierten Gegner von S21) verhandeln und in den nächsten Tagen neue Gutachten präsentieren. Denn in der Vegetationszeit – sie beginnt am 1. März – gilt in Deutschland ein Baumfällverbot. Aber selbst wenn die Bahn diese Hürde schaffen sollte: Es gibt noch viele Hindernisse. «Ich glaube fest an Erfolg unseres Widerstands», sagt die Vierzigjährige am Pavillon. «Sonst stünde ich nicht seit zwei Jahren hier.»

Noch viele Hürden für die Bahn

Es ist schon bemerkenswert. Da hat die Bewegung mehrere Schlappen wegstecken müssen (vgl. «Die Befriedungsversuche») – und doch wehrt sie sich nach Kräften und mit schier unverwüstlichem Optimismus gegen das Projekt S21. Es nehmen zwar nicht mehr ganz so viele Menschen an den Kundgebungen teil, aber zu den Montagsdemonstrationen (die 107. wurde am Montag dieser Woche abgehalten) kommen noch immer 2000 bis 3000 Leute. Es gibt weiterhin Informationsveranstaltungen, Lesungen, Konzerte, Diskussionsrunden, Führungen durch den Schlossgarten – und auch die Mahnwache am Nordausgang des Hauptbahnhofs ist noch da. Seit über achtzehn Monaten informieren hier neben dem Bauzaun des bereits 2010 abgerissenen Nordflügels S21-GegnerInnen über ihren Widerstand. Sie diskutieren mit PassantInnen, verteilen Flugblätter und Aufkleber, bieten grüne Schals und Buttons an und argumentieren überaus kenntnisreich für den Erhalt des bestehenden Kopfbahnhofs, der ihrer Meinung nach viel leistungsfähiger ist als die geplante achtgleisige, schräge, nicht barrierefreie und beängstigend enge Tunnelhaltestelle. Einer von den rund 300 AktivistInnen, die in Zwei-Stunden-Schichten und rund um die Uhr die Mahnwache betreuen, ist Jürgen Horan. Seine Frau und seine Kinder hielten ihn für verrückt, weil er immer noch mitmache, erzählt der Eisenbahnfan, der gerade in Rente gegangen ist; aber es spreche einfach zu viel gegen den neuen Bahnhof. Horan argumentiert offen, schickt Fragende auch zur schicken Pro-S21-Infostelle im Hauptbahnhof («damit Sie die Gegenargumente hören») und kennt Sachverhalte, die nicht so oft in den Medien stehen.

So weiss er, dass schon vor hundert Jahren in Stuttgart ein Durchgangsbahnhof vorgesehen war, aber zugunsten des Kopfbahnhofs abgelehnt wurde («weil man damals noch für die Zukunft plante»). Dass ein modernisierter Kopfbahnhof viel leistungsfähiger wäre, dass die Finanzierung von S21 grundsätzlich verfassungswidrig ist, dass beim Stresstest für S21 gelogen wurde und dass das ganze Projekt ohnehin kippen könnte, weil laut Paragraf 11 des Eisenbahngesetzes bestehende Bahnstrecken nur dann stillgelegt werden dürfen, wenn es keine anderen Anbieter gibt.

Vielleicht ist es dieser Sachverstand, gepaart mit der schwäbischen Sturheit, die Leute wie ihn weitermachen lässt. Denn Horan hat ja recht. Den bestehenden Kopfbahnhof mit seinen sechzehn Gleisen haben schon vor vierzig Jahren 47 Züge in der Stunde verlassen; er könnte problemlos und für wenig Geld ausgebaut werden. Es stimmt auch, dass die DB beim sogenannten Stresstest im letzten Sommer (einer Computersimulation) die Vergaben so lange veränderte, bis das gewünschte Ergebnis (49 Züge in der Zeit zwischen 7 und 8 Uhr morgens) erreicht war. Laut gut dokumentierten Analysen, die in den letzten Wochen bekannt wurden, schafft S21 aber bei realem Betrieb maximal nur 32 bis 38 Zugabfahrten (im Zürcher Hauptbahnhof sind es in derselben Morgenstunde 94). Und es gibt tatsächlich die Stuttgarter Bahn AG, eine Initiative von Privatbahnen und Privatpersonen, die künftig die Infrastruktur des Kopfbahnhofs nutzen wollen und bereits eine Feststellungsklage eingereicht haben.. «Und was passiert dann?», fragt Horan. «Sind die DB und alle anderen Immobilienspekulaten, die das Gleisvorfeld nutzen wollen, dann immer noch interessiert?»

Gute Fragen. Und es gibt noch mehr: Warum will die Bahn in der Stuttgarter Innenstadt jetzt unbedingt bauen, obwohl sie für Anschlussstrecken wie den Tunnel zum Flughafen noch nicht mal einen Bauantrag gestellt hat (auch dort gibt es Protest). Weshalb findet sie keine Firma, die die heiklen Tiefbohrungen vornehmen will (unter dem Kellerbahnhof muss beispielsweise der Nesenbach hindurchgeführt werden). Und wer zahlt die absehbaren Mehrkosten in Milliardenhöhe (niemand, nicht einmal die Bahn, geht davon aus, dass es bei der vereinbarten Kostenobergrenze von 4,5 Milliarden Euro bleibt). Es gibt also allerlei Gründe, die eine Umsetzung des Projekts noch verhindern könnten.

Falsche Voraussetzungen

Aber was ist mit dem Volksentscheid Ende November? Hatte sich da nicht eine Mehrheit der Baden-WürttembergerInnen für S21 ausgesprochen? «Der Fortschrittsglaube ist hier weit verbreitet», sagt Horan, «viele halten alles, was neu ist, für gut». Und überhaupt: «Ein wirklich demokratischer Entscheid kann nur am Anfang eines Projekts getroffen werden und nicht erst, wenn mit dem Bau schon begonnen wurde. Und er setzt auch voraus, dass alle Fakten auf den Tisch kommen.»

Das sieht auch Bernd Riexinger so, der im Unterschied zu vielen in der Bewegung nicht an einen Abstimmungssieg geglaubt hatte. Trotz des Wahlerfolgs der Grünen bei der Landtagswahl im März 2011 sei die CDU die bei weitem stärkste Partei im Land geblieben, gibt der Geschäftsführer des Ver.di-Bezirks Stuttgart zu bedenken, «und die Bürgerlichen haben mit ihren zahllosen Landräten und Bürgermeistern alle Kräfte für den Abstimmungskampf mobilisiert». So gesehen seien die 41 Prozent gegen S21 ein Erfolg gewesen. Und bis auf die Tatsache, dass «man nun in der grün-roten Landesregierung keinen Verbündeten mehr hat», habe sich an den Machtverhältnissen nicht viel geändert. Zumal Ministerpräsident Winfried Kretschmann ohnehin kein starker Verbündeter war.

Ausserdem seien ja alle Mitgliedsorganisationen des Aktionsbündnis gegen S21 weiterhin dabei, sagt der Gewerkschafter Riexinger, der auch im Landesvorstand der Partei Die Linke sitzt: «Sie sind nur nicht mehr so aktionsorientert. Aber dafür wird der Protest jetzt von den Parkschützern, also den Leuten selber getragen.»

Die Bewegung öffnet sich

Ob S21 noch verhindert werden kann, wisse kein Mensch, sagt Riexinger. «Aber vielleicht kommen ja auch noch neue Faktoren ins Spiel.» Wenn die Kosten davonlaufen zum Beispiel, oder Genehmigungen nicht erteilt werden. Dann könne die Bewegung schnell wieder so stark werden, wie vor einem Jahr.

Eines sei jedoch jetzt schon sicher: «Die Bewegung ist politischer geworden. Zumindest die Aktiven setzen sich nicht nur mit S21 auseinander, sondern auch mit der Spekulation, dem Imobilienmarkt, mit den ökonomischen Verhältnissen und mit der Frage, wie politische Macht ausgeübt wird.» Auch die sozialen Belange seien in den Vordergrund gerückt: «Es ist für viele unfassbar, dass man bei den Arbeitslosen spart, während hier Milliarden verlocht werden.» Die soziale Sensibilisierung der grossteils eher bürgerlichen Bewegung hat Riexinger, der die Initiative GewerkschafterInnen gegen S21 mitbegründete, bei der Stuttgarter Occupy-Kundgebung im vergangenen Oktober erlebt: «Über ein Drittel der rund 3000 Teilnehmer kam aus der S21-Bewegung.»

Dafür hat die Führung der Grünen, die sich nur halbherzig am Abstimmunskampf beteiligte, an Boden verloren. Bei den Demonstrationen mehren sich die kretschmannkritischen Stimmen. Das ist der Partei momentan zwar egal, sie orientiert sich ohnehin auf die Mitte hin. Aber spätestens bei der nächsten Wahl wird sie die Enttäuschung über ihre Politik zu spüren bekommen. Wenn es nicht schon früher kracht – bei einer gewaltsamen Räumung des Schlossparks etwa. Doch dafür muss die Bahn erst einmal ihre Sachen auf die Reihe kriegen. (pw)