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Baden-Württemberg: Schlichtung bei «Stuttgart 21»
Stresstest für Grüne
9. Dezember 2010 | Mit seinem Schlichterspruch zum umstrittenen Projekt für den Neubau des Stuttgarter Hauptbahnhofs hat sich der CDU-Politiker Heiner Geissler der Macht gebeugt und möglicherweise seine Partei gerettet.
Es sollte ein «demokratisches Experiment» werden, ein Lehrstück für den richtigen Umgang des Staates und der Politik mit den BürgerInnen. Ein Lehrstück waren die achttägigen Schlichtungsgespräche, bei denen fast alle KontrahentInnen des umstrittenen Immobilien- und Bahnhofprojekts «Stuttgart 21» (S21) an einem Tisch sassen, in der Tat – denn sie zeigten, wer die Macht hat. So tauchten im Verlauf des Gesprächsmarathons zwar viele Fakten auf, die die Kritik am milliardenteuren Tiefbahnhof untermauerten. Zwar wurde auch sehr sachlich argumentiert. Aber dann, gegen Ende des Schlagabtauschs, formulierte Bahnvorstandsmitglied Volker Kefer ein paar Sätze, die klar machten, welchen Zweck die Schlichtung für den Bund, das Land, die Stadt und die Deutsche Bahn AG vor allem hatte: Sie sollte dem Protest die Spitze nehmen.
«Wir haben die Rechtstitel», sagte Kefer in die Runde und den Hunderttausenden, die die Liveübertragung der Schlichtung vor dem Fernseher verfolgten, und: «Wir werden jeden Prozess führen, um unsere Ansprüche durchzusetzen.» Mit anderen Worten: Die Verträge und Beschlüsse der politischen Gremien und Gerichte sind bindend, wir klagen sie ein, und die ProjektgegnerInnen können uns den Buckel runterrutschen.
Schon von daher, kritisierte beispielsweise die «Süddeutsche Zeitung», war der Dialog «von Anfang bis Ende eine asymmetrische Veranstaltung»; sie war «therapeutisch angelegt, nicht offen». Dazu kam, dass Moderator Heiner Geissler (CDU) zwar eine Debatte über die Mängel des Projekts (etwa die Behindertenfeindlichkeit des Tiefbahnhofkonzepts) zuliess, die grossen Themen aber aussparte. Beispielsweise die Auswirkungen von S21 auf andere Schienenverkehrsprojekte – wie den dringend benötigten Ausbau der Rheintalstrecke zwischen Karlsruhe und Basel (ohne den der Gotthardbasistunnel eine innerschweizerische Angelegenheit bleibt) oder der Gäubahn, die Stuttgart und Zürich verbindet. Die Milliarden, die in den Stuttgarter Untergrund gebuttert werden sollen, fehlen für viel wichtigere Vorhaben.
Entsprechend widersprüchlich war am Schluss Geisslers nicht bindendes Fazit. Er plädierte für Nachbesserungen an S21, lehnte aber einen Baustopp ab (die Bahn darf auf Basis ihrer alten Pläne weiterbauen). Er empfahl einen Stresstest, mit dem am Computer die von der Bahn versprochene Leistungssteigerung des geplanten Tiefbahnhofs simuliert werden soll – obwohl die Gespräche ergeben haben, dass die Bahn Zahlen und Untersuchungsergebnisse meist unter Verschluss hält. Einen Tag nach dem Schlichtungsspruch nahm CDU-Landesverkehrsministerin Tanja Gönner das Ergebnis auch gleich vorweg: Das gehe schon glatt.
Zudem ignorierte Geissler die ökologischen, verkehrspolitischen und finanziellen Vorteile einer Modernisierung des bestehenden Kopfbahnhofs und sprach sich stattdessen für die Einrichtung einer Stiftung aus. Sie soll verhindern, dass die hundert Hektaren grosse innerstädtische Fläche - die durch die Tieflegung des Bahnhofs frei wird - SpekulantInnen anheimfällt. Was für ein Widersinn, was für ein Placebo: Die Grundstücke gehören mittlerweile der Stadt. Was soll da eine Stiftung, in der «Bürger, Gemeinderäte und neutrale Dritte» die Kontrolle haben? Ist die parlamentarische Demokratie in Stuttgart so auf den Hund gekommen? Und falls ja: Warum dürfen dann die StuttgarterInnen nicht per Volksentscheid über ein Projekt befinden, das ein Kernstück der von der schwarz-gelben Koalition in Berlin weiter betriebenen Bahnprivatisierung ist?
Sein Spruch hatte dennoch die erhoffte Wirkung: In den letzten Umfragen konnten die S21-BefürworterInnen Boden gutmachen, die CDU gewann etliche Prozente hinzu. Das stürzt die Grünen, die sich erst spät zur S21-Opposition gesellten, in ein Dilemma. Sie verdanken ihren Popularitätszuwachs vor allem enttäuschten CDU-und FDP-WählerInnen, die nach Geisslers Fazit einen weiteren Widerstand gegen S21 kaum goutieren dürften. Man begrüsse das Schlichtungsergebnis, hiess es daher am vergangenen Wochenende auf dem grünen Landesparteitag in Freiburg. Sollte sich die Partei (die nach der Landtagswahl Ende März 2011 den Ministerpräsidenten stellen will) damit begnügen, verliert sie jedoch den Rückhalt der S21-GegnerInnen. Und die kommen aus allen sozialen Schichten.
Am vergangenen Samstag hatte die Stuttgarter Initiative der ParkschützerInnen – an den Gesprächen nicht teilnahm – rund 10 000 DemonstrantInnen gegen S21 und den Schlichterspruch mobilisieren können. Jetzt hängt alles davon ab, wie viele Menschen am kommenden Samstag dem Aufruf des Aktionsbündnisses folgen. Sind es mehrere Zehntausend, ist alles wieder offen. (pw)