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Deutschland: Fordern statt fördern
Im Schrödertakt
8. Juni 2006 | Am vergangenen Donnerstag hat der Bundestag fünfzig Massnahmen verabschiedet, die die bisherigen Arbeitsmarktgesetze weiter verschärfen. Der CDU geht das noch nicht genug.
Jetzt ist also auch er einer dieser fünf bis sechs Millionen Drückeberger. Dabei hat Chris W., ein gelernter Industriekaufmann in Oberschwaben, vor kurzem noch «Dienst an der Gesellschaft» verrichtet. Er war im Frühjahr 2005 zum Zivildienst eingezogen worden, hatte ein Dreiviertel Jahr lang als Pfleger in einem Krankenhaus geschuftet und muss nun erleben, wie PolitikerInnen und die Medien ihn und die anderen Arbeitslosen mobben. Denn seit Anfang Jahr bezieht W. Arbeitslosengeld. Er hatte seine Stelle verloren, als er den Dienst antrat. Zwei bis drei Bewerbungen schickt er nun wöchentlich ab, bisher vergebens. «Die Antwort ist immer dieselbe», sagt er: «zu wenig Berufserfahrung.» Nach seinem erfolgreichen Lehrabschluss hatte er gerade mal acht Monate im Betrieb arbeiten können.
Der 21-Jährige verzweifelt so langsam, und etlichen seiner Kumpels geht es ähnlich. Die für ihn zuständige Arbeitsverwaltung hat ihn zwar mehrfach zu einem Beratungsgespräch gebeten, «aber da sass mir jedes Mal ein anderer Sachbearbeiter gegenüber, und keiner hat sich sonderlich interessiert». Er solle halt mal diese Formulare ausfüllen, habe es geheissen – und dann war die Beratung auch schon vorbei.
Und so bewirbt sich W. auf eigene Faust bei privaten Zeitarbeitsagenturen und Leiharbeitsfirmen, die ihm aber ebenfalls seine mangelnde Erfahrung ankreiden. Dabei hat er noch Glück: Er gilt bislang als Kurzzeitarbeitsloser, erhält also rund sechzig Prozent seines früheren Lohns und kann noch hoffen. Wenn ihm seine Arbeitsagentur bis zum Jahresende keine Stelle vermittelt, muss sie eine Strafe zahlen; da werden sich die SachbearbeiterInnen in den nächsten Monaten also noch anstrengen.
Man werde die Arbeitslosen «fordern und fördern», hatte die rot-grüne Regierung gesagt, als sie vor bald vier Jahren die grösste Sozialreform der bundesdeutschen Geschichte vorlegte. Doch von Fördern keine Spur. Nur noch das Fordern sei übrig geblieben, sagt beispielsweise Andreas Maucher, Geschäftsführer der Neuen Arbeit Konstanz GmbH. Diese gemeinnützige Initiative, die in Konstanz eine ehemalige Kaserne als Wohn- und Arbeitsstätte betreibt, hat über Jahre hinweg eine Vielzahl von Langzeitarbeitslosen umgeschult und ausgebildet. Mindestens sechzehn Arbeitslose bekamen in den Werkstätten und Sozialeinrichtungen der Neuen Arbeit pro Jahr eine profunde Qualifikation, sechs davon wurden bis zur Lehrprüfung im Sanitätshandwerk, als Schreiner, als Elektroinstallateure oder als Erzieherin ausgebildet.
Seit Hartz IV (vgl. Randspalte) sind die Umschulungsmittel jedoch «weggebrochen», wie Maucher das formuliert. «Die Arbeitsverwaltung hat sämtliche Instrumente aktiver Arbeitsmarktpolitik eingestellt.» Es gibt keine Arbeitsbeschaffungsmassnahmen mehr, keine Finanzmittel für das Projekt «Hilfe zur Arbeit», das den Einstieg ins Berufsleben ermöglichen sollte, nichts. Stattdessen kommen Ein-Euro-JobberInnen, die neben ihrem Arbeitslosengeld II durchschnittlich 1.50 Euro Stundenlohn erhalten. Zehn solcher JobberInnen arbeiten derzeit für jeweils ein halbes Jahr in der Cherisy-Kaserne. An Weiterbildung ist da natürlich kaum zu denken. «Die Arbeitsverwaltung ist nur mehr ein Repressionsinstrument», sagt Maucher. Da es keine Stellen gibt, «stehen die Arbeitsvermittler mit leeren Händen da und drangsalieren bloss noch die Leute».
Das Kostenargument
Die Richtung wird seit Jahren von oben vorgegeben. «Es gibt kein Recht auf Faulheit», hatte der frühere SPD-Kanzler Gerhard Schröder bereits 2001 konstatiert und damit eine Vorlage geliefert, die seither von der SPD, Teilen der Grünen, fast der gesamten CDU/CSU und natürlich der FDP nachgebetet wird. Missbrauch, Missbrauch, Missbrauch steht auf der Gebetsmühle, die die Grosse Koalition in immer schnellerem Tempo dreht. Arbeitsscheue und SozialbetrügerInnen hätten die Kosten der Hartz-Reformen nach oben getrieben, sagen Angela Merkels CDUlerInnen – und fordern noch mehr Schnitte ins soziale Netz.
Sie begründen dies mit den gestiegenen Kosten für das Arbeitslosengeld II (Alg II), das durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe geschaffen worden war. Auf 14 Milliarden Euro hatte das Finanzministerium im Jahre 2005 die Ausgaben für Alg II veranschlagt, tatsächlich zahlen aber musste der Bund im letzten Jahr 25 Milliarden. Auf den ersten Blick eine horrende Steigerung.
Doch die Zahl trügt. Wenn man alle staatlichen Ausgaben für Langzeitarbeitslose und SozialhilfeempfängerInnen zusammenrechnet, zahlen nach einer Berechnung des Arbeitsministeriums von Anfang Mai Bund und Gemeinden heute nicht mehr als vor der Reform (rund 44 Milliarden Euro). Dass Hartz IV mehr kostet als ursprünglich veranschlagt, liegt an den Kalkulationsfehlern und Prognosen der Behörden:
● So hatte die Regierung vor der Reform erwartet, dass 3,4 Millionen Menschen ein Anrecht auf Alg II haben würden. Tatsächlich waren es im April 2006 aber 5,2 Millionen.
● Weitaus mehr Menschen als vorhergesehen erhalten Alg II, obwohl sie eine Arbeitsstelle haben. Nach Schätzungen der Bundesagentur für Arbeit verdient rund eine Million Erwerbstätige so wenig Lohn, dass sie davon nicht leben können und somit zuschussberechtigt sind.
● Innerhalb der öffentlichen Hand fand eine Verlagerung statt, mit der wenige gerechnet hatten: Viele Gemeinden, die für arbeitsunfähige SozialhilfeempfängerInnen zahlen müssen, haben ihre Klientel kurzerhand gesundgeschrieben, um ihre Kassen zu entlasten.
● Zudem fiel eine psychologische Barriere weg: Vor der Reform hatten viele Arme den Weg zum Sozialamt gescheut, weil sie den Gang als würdelos empfanden. Der Staat hat dadurch Milliarden gespart. Mit der Einrichtung von Jobcentern sank jedoch die Hemmschwelle. Immer mehr Berechtigte erheben – ermuntert auch durch die Erwerbslosen-Initiativen – Anspruch auf das, was ihnen zusteht.
● Und manche nutzten auch die Grauzonen, die das Gesetz ihnen bot. Ob jemand Alg II erhält, bemisst sich auch an Vermögen und Lohn der PartnerInnen im selben Haushalt. Aber wer kann das schon überprüfen? Einige gaben vor, allein zu leben, obwohl sie das nicht tun. Aber wer kann ihnen angesichts eines Alg-II-Satzes in Höhe von 345 Euro im Monat verübeln, dass sie Schlupflöcher nutzen?
Die öffentliche Diskussion der letzten Wochen konzentriert sich allein auf den letzten Punkt. Fast niemand (ausser der Linkspartei, einigen Gewerkschaften und wenigen Medien) erinnert daran, dass es für die offiziell 4,54 Millionen Erwerbslosen (die reale Zahl liegt eher bei 6 oder 7 Millionen) gerade mal eine viertel Million offene Stellen gibt. Und so gut wie niemand spricht von den rund 200.000 Zwangsumzügen, die Alg-II-EmpfängerInnen in diesem Jahr bevorstehen, weil die Behörden den «zu hohen» Mietzuschuss nicht mehr bezahlen wollen und eine Räumung anordnen (und das, obwohl viele Gemeinden den Ausverkauf ihrer Sozialwohnungen vorantreiben).
Sozialschnüffler und Datenabgleich
Das so genannte Fortentwicklungsgesetz, das am Donnerstag letzter Woche verabschiedet wurde, sieht unter anderem vor, dass Alg-II-EmpfängerInnen keinerlei Leistungen mehr erhalten, wenn sie innert zwölf Monaten drei Mal eine angebotene Stelle – gleich welcher Art – ablehnen. Sie bekommen dann auch keinen Mietzuschuss mehr und fallen ganz aus dem Netz. Wer mit anderen in einem Haushalt lebt, muss künftig sein Single-Dasein beweisen; bisher lag die Beweislast bei den Behörden, wenn sie eine eheähnliche Gemeinschaft vermuteten. Zudem werden alle Arbeitsagenturen im Land Kontrollstellen einrichten mit SozialschnüfflerInnen, die etwaige Missbrauchsfälle aufspüren sollen. Ein Datenabgleich mit Steuerbehörden, Verkehrsämtern und anderen Verwaltungen ist ebenfalls vorgesehen.
Diese neuerliche Reform treibt Erwerbslose wie Beschäftigte weiter in eine Richtung, deren Ziel seit langem feststeht. Erstens: Wer keinen Job hat, muss sich unter allen Bedingungen verkaufen. Zweitens: Wer einen Job hat, muss alles akzeptieren, um ihn zu behalten. Das sagen zwar Kanzlerin Merkel (CDU) und ihr Vize Franz Müntefering (SPD) nicht offen, aber der Zweck ist erkennbar.
So sind seit der Einführung von Hartz IV selbst gut organisierte Belegschaften erpressbarer geworden. Viele Beschäftigte geben Unternehmerforderungen nach, weil sie wissen: Wenn jetzt der Betrieb zumacht, landen wir alle in einem Jahr bei Alg II und 345 Euro im Monat. Dies hat die Gewerkschaften nachhaltig geschwächt.
Ausserdem weitet sich so – wie von vielen Unternehmern und Politikerinnen verlangt – der Niedriglohnsektor aus. Der Tariflohn für FriseurInnen beträgt in Sachsen 3.05 Euro pro Stunde. Viele Putzfrauen verdienen in Deutschland 3.50 Euro. Die MitarbeiterInnen von privaten Sicherheitsdiensten bekommen nur wenig mehr. Mit solchen Löhnen können die Beschäftigten dieser (und anderer) Branchen nicht leben. Daher erhalten sie derzeit auch einen Zuschuss in Form des Alg II. Hartz IV wird also auch deswegen immer teurer, weil Unternehmen ihre Löhne senken. Schon heute schicken die Chefs von McDonald's-Filialen ihre Angestellten zur Arbeitsagentur, damit sie sich dort den Lohn aufbessern lassen.
Während die Working Poor in den deutschen Medien kaum ein Thema sind, wird gegen die Arbeitslosen unentwegt Stimmung erzeugt. Das erzeugt neue Vorstösse. So will CDU-Fraktionschef Volker Kauder, ein enger Vertrauter von Merkel, eine generelle, unbezahlte Arbeitspflicht für Langzeitarbeitslose einführen. Statt «sinnlos herumzugammeln», könnten auch AkademikerInnen einfache Jobs erledigen, sagte er letzte Woche. Von Arbeitslagern sprach er noch nicht. (pw)
Agenturschluss der Überflüssigen
Mit zwanzigtausend TeilnehmerInnen hatten die OrganisatorInnen gerechnet, aber nur rund halb so viele Leute demonstrierten am vergangenen Samstag in Berlin gegen die Hartz-IV-Verschärfungen unter dem Motto «Schluss mit den «Reformen» gegen uns». Die breite Bewegung der Erwerbslosen, die noch 2004 tausende zu zahllosen Demos gegen die rot-grüne «Agenda 2010» mobilisieren konnte, ist weitgehend verebbt - auch wegen des Desinteresses der Gewerkschaftsspitzen. Deutschland ist nicht Frankreich.
Dafür aber fassen immer mehr bunte, einfallsreiche Initiativen Fuss. So hatte eine Aktion «Agenturschluss» im Januar 2005 kurz nach Inkrafttreten von Hartz IV in vielen Städten Arbeitsagenturen und Behörden durch Besetzungen, Blockaden und Versammlungen lahm legen können und diesen Protest im Mai 2005 wiederholt. Aktiv ist auch die Gruppe der «Überflüssigen», die im Oktober 2004 die Berliner Landeszentrale der Arbeiterwohlfahrt besetzte, um gegen den Einsatz von Ein-Euro-JobberInnen zu protestieren. Sie hat danach Luxusbankette in Luxushotels leergefuttert, den SPD-Superminister Wolfgang Clement (er hatte kurz zuvor Arbeitslose als «Sozialschmarotzer» bezeichnet) zu Hause aufgesucht, Zwangsräumungen von Arbeitslosen sabotiert (indem sie Möbelwagen blockierte) und Unternehmerfeiern gestört.