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Buchkritik: Der Streiksommer 1973

Als die Migrant:innen für uns zu kämpfen begannen

13. Februar 2024 | Vor einem halben Jahrhundert ging eine Streikwelle durch Westdeutschland, die vieles veränderte. Mit ihr krempelten migrantische Arbeitskräfte erfreulicherweise auch die Gewerkschaften um. Eine neue Publikation zeigt, wie wichtig ihre Kämpfe damals waren. Und bis heute sind.


Cover der Broschüre der Rosa-Luxemburg-StiftungSeit Monaten sorgen Arbeitskonflikte regelmäßig für Schlagzeilen. Doch so bedeutsam die letztjährigen und aktuellen Streiks der Eisenbahner:innen, der Pflegekräfte, der Metallarbeiter:innen, des Verkaufspersonals, der Flughafenbediensteten oder der Angestellten im öffentlichen Dienst auch waren beziehungsweise sind – an die Auseinandersetzungen während des Streiksommers 1973 kommen die aktuellen Arbeitsniederlegungen bei weitem nicht heran.

 

Denn damals kämpften Zehntausende in rund 400, zumeist «wilden» Streiks nicht nur für für höhere Löhne, sondern vor allem für eine faire Behandlung. An vorderster Front standen dabei oft Migrant:innen, die seinerzeit «Gastarbeiter» genannt wurden. Schließlich waren vor allem sie es, die sich mit den Schikanen der Unternehmen herumschlagen mussten – und mit dem Desinteresse vieler Gewerkschaften.

Und das schon ziemlich lange: Bereits Mitte der 1950er Jahre hatte die BRD-Regierung mit der Anwerbung von Beschäftigten aus dem Mittelmeerraum begonnen und eine Reihe von bilateralen Abkommen geschlossen – zuerst mit Italien, dann mit Spanien und Griechenland, später (ab 1961) mit der Türkei, mit Portugal und Jugoslawien. Nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinen vielen Gefallenen und der Einführung der Wehrpflicht für die neu gegründete Bundeswehr fehlte es dem «Wirtschaftswunderland» an Arbeitskräften.

Selbstbewusste Frauen

Und so kamen bis 1973 über zwei Millionen ausländische Lohnabhängige ins Land, darunter etwa 700.000 Arbeiterinnen. Sie alle standen weit unten auf der Werteskala des ökonomisch aufblühenden Westdeutschlands: Sie wurden miserabel entlohnt, steckten jahrelang in den untersten Lohngruppen fest, hausten in Fabrikbaracken, hatten oft nur Zeitverträge und waren gesellschaftlich isoliert. Nicht alle nahmen das widerspruchslos hin.

So widersetzten sich im Mai 1967 mehrere hundert Spanierinnen in der Keksfabrikation von Bahlsen Lohnkürzungen, allerdings vergebens: 300 Frauen wurden im Zuge der ersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit entlassen. Drei Jahre später ging ein anderer Konflikt besser aus. Im Mai 1970 forderten 1600 Arbeiterinnen des Autozulieferers Pierburg in Neuss die Abschaffung der untersten Lohngruppe, legten dafür die Arbeit nieder – und setzten sich nach zwei Tagen durch. Dabei hatte sich der Betriebsrat – dem damals nur deutsche Männer angehörten – gegen den Streik ausgesprochen.

Überhaupt spielten die migrantischen Arbeiterinnen eine ganz andere Rolle, als ihnen damals zugedacht war: Sie waren bei weitem nicht so «unterdrückt», «unselbständig» oder «schwach», wie sie zum Teil auch heute noch  empfunden werden.

Das zeigte sich drei Jahre danach, als es im August 1973 wiederum bei Pierburg erneut zu einer Arbeitsniederlegung kam. Über zwei Drittel der 3300 Beschäftigten waren Frauen aus Griechenland, der Türkei, aber auch Jugoslawien, Spanien und Italien – und wieder standen sie ganz vorn. Um die Kluft zu überbrücken, gingen die griechischen Arbeiterinnen (die im demokratischen Widerstand gegen die heimische Junta viel Erfahrung gesammelt hatten) direkt auf die deutschen Kollegen zu, sprachen mit ihnen  – und verteilten Blumen.

Und hatten nach einer Woche Erfolg: Obwohl – oder weil – die Polizei mit Knüppeln und gezogenen Pistolen vorging und die Geschäftsleitung unnachgiebig blieb, solidarisierten sich die Facharbeiter mit ihnen. Die unteren Lohngruppen wurden abgeschafft, der Lohn für alle um eine Mark (pro Stunde) angehoben.

Geburtsstunden des migrantischen Widerstands

Ganz anders ging ein Arbeitskampf aus, der wenige Tage später ebenfalls an der Basis begann, eine Woche dauerte und als der bedeutendste des Streiksommers 1973 in Erinnerung blieb: Der Streik im Ford-Werk von Köln. Auch dort waren rund zwei Drittel der 32.000 Beschäftigten ausländischer Herkunft, und viele von ihnen traten am 24. August, einem Freitag, in den Ausstand.

Zuvor hatte die Werksleitung mehreren Hundert türkischen Arbeiter:innen fristlos gekündigt, weil sie ohne Genehmigung länger im Urlaub geblieben waren. Bisher konnten Beschäftigte, die für vier Wochen mit dem Auto den weiten Weg in die Heimat auf sich genommen hatten, die verpasste Arbeitszeit durch Sonderschichten wettmachen. Diesmal jedoch, in der zweiten Nachkriegskrise, nutzte jedoch der Konzern ihr Fernbleiben – und warf sie raus.

Ihre Kolleg:innen antworteten mit einem spontanen Streik, der sich zu einer Fabrikbesetzung ausweitete und gründeten ein eigenes Streikkomitee. Denn die IG Metall und die Betriebsrat standen auf der anderen Seite des Konflikts – wie auch die Politik, die Polizei und ein Teil der Medien, die von «Türken-Terror» krakeelten (Bild-Zeitung), bang fragten: «Übernehmen die Gastarbeiter die Macht?» (Kölner Express) oder erfreut titelten:«Deutsche Arbeiter kämpfen ihre Fabrik frei!» (Bild). Ford hatte Gegendemonstration von leitenden Angestellten, Meistern, Werkschutz und Polizisten in zivil organisiert.

Am Schluss dankte der Konzern ausdrücklich «den Mitgliedern des Betriebsrates, die sich in vorbildlichem körperlichen Einsatz in Zusammenarbeit mit Polizei und Geschäftsleitung darum bemüht hatten, die Rädelsführer dingfest zu machen.» Und doch blieb der Streik als ein positives Ereignis im kollektiven Gedächtnis haften: die Zugewanderten ließen sich nicht mehr alles gefallen.

Der Blick der Secondos

All dies – und noch viel mehr – ist in einer ausgezeichneten Broschüre der Rosa-Luxemburg-Stiftung nachzulesen, die kostenlos bezogen werden kann. Die Publikation mit dem leider etwas schwerfälligen Titel «Gelingende und misslingende Solidarisierungen: spontane Streiks in Westdeutschland um 1973» zeichnet nicht nur die Ereignisse vor fünfzig Jahren nach, sondern schildert – und das ist ihre große Stärke – die wichtigsten Erfahrungen aus Sicht jüngerer Migrant:innen.

So schreibt Gün Tank, Journalistin, Autorin und Aktivistin, beispielsweise über die eingewanderten Frauen, «die in den 1970er Jahren eine erheblich höhere Erwerbsbeteiligung (aufwiesen) als deutsche Frauen» und formuliert den wunderschönen Satz von den «Arbeitskämpfen … die die Bundesrepublik 1973 erleben durfte». Endlich mal ein Statement, das Streiks nicht als Bedrohung, sondern als Chance begreift!

Das sahen die Gewerkschaften damals anders. Schon die Septemberstreiks 1969 hatten erkennen lassen, wie sehr die Belegschaftsvertretungen es verpassten, «sich für eine angemessene kollektive Interessenvertretung einzusetzen», so die beiden Autorinnen Sophia Friedel und Jana Lena Jünger. Dies hat sich bald darauf gebessert – auch dank der Migrant:innen, die sich in den Jahrzehnten danach zunehmend gewerkschaftlich organisierten und die Organisationen aus ihrer sozialpartnerschaftlichen Behäbigkeit holten.

Simon Goeke wiederum, Wissenschaftler und Mitinitiant eines Online-Archivs zur postkolonialen Gegenwart Münchens, hebt die Rolle der Pierburg-Arbeiterinnen als Pionierinnen «der betrieblichen, der feministischen, aber auch der antirassistischen Kämpfe» hervor. Der Sozialwissenschaftler Canar Tekin analysiert die unterschiedliche Wahrnehmung des Streiks in den türkischen Communities (den Linken, die ihn unterstützten, und den nationalistischen Rechten, die es damals schon gab).

Abschiebung in einen Folterstaat

Sehr lesenswert ist auch das Interview mit Mitat Özdemir, der ab 1966 unter anderem als Betreuer der Wohnheime bei Ford arbeitete und von der befreienden Wirkung des Widerstands erzählt, die auch jene spürten, die gar nicht mitgestreikt hatten. Wie wichtig der Fordstreik heute noch ist, schildert der Lehrer, Rapper und Aktivist Aktivist des Tribunals «NSU Komplex auflösen», Kutlu Yurtseven, der sich dabei auch daran erinnert, dass seine Eltern nicht nur der Jobs wegen nach Deutschland kommen waren – sondern auch, um sich von Zwängen zu befreien.

Dass nicht alles auf einen Schlag besser wurde und die Repression anhielt, beschreibt Markus Mohr in seinem detaillierten Bericht über Auseinandersetzungen bei Dynamit-Nobel in Fürth. Dort hatte im Mai 1975 ein wilder Streik zu einer Entlassungswelle geführt, zu Polizeischikane, zur Inhaftierung mehrerer Dutzend Streikenden (wegen angeblichem Landfriedensbruch) und zu Abschiebungen in eine Türkei, in der das Militär die Macht übernommen hatte, der Ausnahmezustand herrschte, gefolterte wurde und in der bald danach, am 1. Mai 1977, 34 Teilnehmer:innen einer Maikundgebung erschossen wurden.

Der «kalte Rassismus» der staatlichen Behörden (so der Gewerkschafter Mohr) ist nicht neu, es gibt ihn schon lange in diesem Land. Der genaue Blick von unten macht die Broschüre zur unverzichtbaren Lektüre für alle, die sich für die Geschichte der Migration interessieren. Und die sich heute engagieren. (pw)