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Buchkritik: «Nordirland – zwischen Bloody Sunday und Brexit»
Nordirlands fragiler Friede
2. September 2023 | Seit einem Vierteljahrhundert herrscht Ruhe im einst konfiktreichen Nordirland. Aber ist der Frieden auch von Dauer? Wie prekär die Verhältnisse weiterhin sind, zeigt ein neuer Reportageband von Ralf Sotscheck.
Nun ist sie also fast schon vorbei, die nordirische „marching season“ mit ihren Paraden, Freudenfeuern, Fahnenträger:innen, Dudelsackbläsern, Trommler:innen und Reden. Begonnen hatte sie – wie jedes Jahr – an Ostern, als die irischen Republikaner:innen* dem Aufstand 1916 gedachten, mit dem der irische Unabhängigkeitskampf begann. Der nächste Höhepunkt folgte am 12. Juli, an dem tradionellerweise die pro-britischen Unionist:innen an den Sieg des protestantischen Königs Wilhelm von Oranien über die Truppen des ehemaligen katholischen Königs Jakob II. erinnern. 333 Jahre ist die Schlacht am Boyne (1690) nun her – und auch dieses Jahr waren sie wieder zu Zehntauenden unterwegs.
Zum nächsten Großereignis im nordirischen Erinnerungskalender versammelten sich Anfang August wiederum jene pro-irischen Nationalist:innen, die die Internerungspolitik der britischen Regierung nicht vergessen wollten: Ab August 1971 ließ London Hunderte verhaften, denen die Behörden eine Mitgliedschaft in der damals aktiven Irischen-Republikanischen Armee (IRA) vorwarf (meist zu Unrecht), und sie zum Teil jahrelang ohne Grichtsverfahren einsperren. Und drei Tage später trommelten sich hundert Bands zum Gleischritt von rund 10.000 Mitgliedern der protestantischen Organisation Apprentice Boys durch Derry, um einer Großtat ihrer Vorvorvorfahren zu gedenken, die 1688 die heute zweitgrößte – und vornehmlich irisch-katholische – Stadt Nordirlands gegen Jakobs Truppen verteidigten.
Störfaktor Brexit
Früher führten all diese Aufmärsche zu heftigen, teils gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den beiden nordirischen Gemeinschaften, den pro-irischen Katholik:innen und den pro-britischen Protestant:innen. Diesmal aber verliefen sie (wie in den vergangenen Jahren) eher gesittet – auch wenn mancherorts Ebenbilder von Politiker:innen der pro-irischen Seite auf den Scheiterhaufen landeten. Und obwohl auf der einen Seite Redner:innen des strikt anti-katholischen Oranierordens ihre alten Sprüche von der protestantischen Vorherrschaft klopften, während auf der anderen erneut die Forderung nach einer irischen Wiedervereinigung bekräftigt wurde.
Ist also 25 Jahre nach Abschluss des Friedensabkommens von 1998 alles gut? Es sieht nicht danach aus. Denn die «protestantische Vorherrschaft» ist mittelfristig tatsächlich gefährdet – allerdings nicht durch die IRA, die ab 1919 für eine Befreiung Irlands vom britischen Joch kämpfte, von 1969 bis Mitte der 1990er Jahre einen Guerillakrieg gegen den britischen Staat sowie loyalistisch-protestantische Paramilitärs führte und sich 2007 auflöste. Sondern vom Brexit, dem Austritt des Vereinigten Königsreichs (UK) aus der EU. Und vom Nordirland-Protokoll, das London und Brüssel nach dem Brexit vereinbarten und das die Handelsgrenze zwischen EU und UK in die Irische See verlegte, also zwischen Nordirland und Britannien.
Diese handelspolitische Grenzverschiebung ist vielen Unionist:innen mehr als nur ein Dorn im Auge. Sie befürchten, allmählich von ihrem Stammland abgehängt zu werden – zumal Waren und Dienstleistungen die innerirische Demarkationslinie zwischen der irischen Republik und Nordirland weiterhin problemlos passieren können.
Aus diesem Grund weigert sich beispielsweise die Democratic Unionist Party, die größte protestantische Partei, die im Karfreitagsabkommen von 1998 zwingend vorgesehene regionale Koalitionsregierung mit der größten pro-irischen Partei Sinn Féin zu bilden. Das Ergebnis: Seit Mai 2022 hat Nordirland keine Regionalregierung mehr, auch die nordirische Versammlung tritt nicht mehr zusammen.
38 Jahre Verweigerung
All das macht in den deutschsprachigen Medien keine Schlagzeilen mehr. Auch die andere Ereignisse – wie der Kampf um Schuldanerkennung oder Wiedergutmachung für die Opfer des langen Bürgerkriegs – werden nur selten erwähnt. Umso wichtiger in das nun erschienene Buch von Ralf Sotscheck «Nordirland – zwischen Bloody Sunday und Brexit». In ihm hat der wohl beste deutschsprachige Kenner Irlands, der seit Mitte der 1980er Jahre in Irland lebt und seither für die Berliner taz als Korrespondent tätig ist, Reportagen zusammengefasst, die in den letzten zwanzig Jahren erschienen sind.
Sie beginnen mit der Geschichte eines französischen Fotografen, der sich Ende Januar 1972 in Derry aufhielt, um dort eine Demonstration der nordirischen Bürgerrechtsbewegung zu fotografieren. Ihr Marsch endete in einem Massaker: Britische Fallschirmjäger erschossen an diesem Bloody Sunday 14 friedlich demonstrierende Menschen. „Kein Ereignis in der blutigen Geschicte des Konflikts hat so tiefe Spuren hinterlassen“, schreibt Sotscheck; vor allem Gilles Perres sei es zu verdanken gewesen, dass die internationale Öffentlichkeit überhaupt etwas davon mitbekam – seine Bilder gingen um die Welt.
Das war bei einem ähnlichen Vorfall fünf Monate zuvor ganz anders gewesen. Da hatte diesselbe Fallschirmjäger-Einheit im Belfaster Stadtteil Ballymurphy gewütet – und zehn Menschen getötet. Aber da war niemand mit einer Kamera zugegen. Und deswegen hat sich dafür – anders als für den Bloody Sunday – auch niemand entschuldigt. Zwar sabotierten, wie Sotscheck berichtet, die britischen Behörden jede ernsthafte Untersuchung, ließen Waffen verschwinden und Zeugenaussagen unterschlagen. Aber immerhin bat 2010, also 38 Jahre später, der damalige Premierminister David Cameron um Verzeihung für ein Vorgehen, das den Nordirlandkonflikt erheblich eskalieren ließ.
Rund 3500 Tote
In den folgenden Geschichten lässt der Autor die großen Geschehnisse des Nordirlandkonflikts Revue passieren: Was die Bürgerrechtsbewegung ab 1968 warum forderte, welche verheerenden Anschläge die protestantischen Paramilitärs (oft in Kollaboration mit der britische Armee) verübten, wie es zu den legendären Hungerstreiks 1980 und 1981 kam, was den vielen Verschwundenen widerfuhr, die die IRA entführte – weil sie in Verdacht geraten waren, mit den Behörden zusammenzuarbeiten (was oft nicht stimmte).
All dies erzählt Sotscheck nicht strikt chronologisch, sondern – und das ist die große Stärke des Buchs – aus der Sicht der Akteur:innen, der Betroffenen oder deren Hinterbliebenen. Und mitunter greift er Randfiguren wie den Fotografen Perres heraus, deren Geschichte mittlerweile gut dokumentierten Geschehnissen eine neue Perspektive geben.
Vieles hat der Autor auch hautnah miterlebt. Beispielsweise das «Milltown-Massaker» 1988, als ein loyalistisch-protestantischer Attentäter die Trauergemeinde während einer Beerdigung von drei IRA-Mitgliedern auf dem Westbelfaster Friedhof Milltown attackierte. Drei Republikaner starben bei dem Anschlag, sechzig wurden verletzt. Und kurz danach, bei der Beerdigung eines der Opfer, wurden zwei britische Armeeangehörige von der IRA erschossen, die aus Versehen in den Beerdigungszug gefahren waren. Fünf Tote innerhalb von drei Tagen in einem Konflikt, der insgesamt rund 3500 Menschenleben forderte.
Keine Friedensdividende
Sotschecks Schilderungen reichen teilweise weit zurück, etwa bis 1948, als sich beispielsweise der überaus erfogreiche proirische Fußballclub Belfast Celtic auflöste: Einer seiner Spieler war bei einem Match gegen den protestantischen Verein FC Linfield in dessen Stadion von Linfield-Fans zusammengeschlagen worden. Doch auch die Aktualität kommt nicht zu kurz.
So durchziehen noch immer Mauern und Zäune der sogenannten Friedenslinie die Großstadt Belfast. Und nicht nur das: Es sind sogar neue hinzugekommen. Bei der Unterzeichnung des Friedensabkommens von Karfreitag 1998 zählte man 24 dieser oft kilometerlangen Trennwände, inzwischen sind es über 40. Manche Reisejournalisten halten diese Absperrungen, so Sotscheck, für die «bedeutendste Sehenswürdigkeit des Vereinigten Königreichs».
Kein Wunder also, dass mittlerweile Tourist:innen per Bus oder im Taxi an die alten und weiterhin virulenten Fronten gekarrt werden. Besonders nachhaltig sei dieser Fremdenverkehr allerdings kaum: «Die lokale Wirtschaft profitiert davon nicht», zitiert Sotscheck einen Koordinator für die Wirtschaftsentwicklung in Westbelfast. Die Schaulustigen würden kurz die großflächigen Wandmalereien, inzwischen staatlich geförderten bunten «Wall Murals» bestaunen – und seien auch schon wieder weg. Überhaupt haben die Arbeiter:innen-Quartiere beispielsweise um die (unionistisch-protestantische) Shankill Road und die (irisch-nationalistische) Falls Road bisher wenig von der einst lauthals versprochenen «FriedensdividendeÅ gesehen.
Ein Buch zur rechten Zeit
Mit «Nordirland – zwischen Bloody Sunday und Brexit» hat Ralf Sotscheck seinen vielen Buchpublikationen einen Reportageband hinzugefügt, der akueller kaum sein könnte. Denn der nordirische Konflikt wird (wenn auch in anderer Form) aller Wahrscheinlichkeit nach erneut eskalieren – nicht nur wegen des Brexit, den die nordirische Bevölkerung beim Referendum 2016 mehrheitlich ablehnte. Sondern auch aufgrund einer im Friedensabkommen von 1998 verankerten Bestimmung.
Diese sieht ein Referendum vor, wenn absehbar ist, dass sich eine Mehrheit für die Wiedervereinigung Irlands aussprechen könnte. Und die Zustimmung dafür wächst – zwar langsam, aber stetig. Wie werden jene Loyalist:innen, die bis heute das Karfreitagsabkommen nicht akzeptieren und über Waffen verfügen, auf den absehbaren Abschied vom Vereinigten Königreich reagieren?
Aber diese Frage kann selbst der große Journalist Sotscheck nicht beantworten. (pw)
* In Nordirland werden die beiden großen Bevölkerungsgruppen – anders als in den deutschsprachigen Medien – zumeist nicht über ihre Religionszugehörigkeit definiert, sondern über ihre politische Orientierung. Auf der einen Seite sind da die sogenannten Nationalist:innen (die eine Wiedervereinigung der irischen Nation befürworten) beziehungsweise die Republikaner:innen, die auch für die Ziele eines (sozialistischen) Irlands eintreten. Und auf der anderen Seite die Unionist:innen, die die Union mit Britannien behalten wollen, sowie die Loyalisten, die einst mit Waffengewalt ihre Loyalität zur britischen Krone demonstrierten – und dies möglicherweise wieder tun.