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Buchkritik: «Passland Viamala»

Zu Fuß unterwegs am Hinterrhein

21. Juni 2023 | Nicht allzu weit entfernt gibt es eine Region, die die Geschichte der Bodenseegemeinden maßgeblich beeinflusste. Und in der es viel zu entdecken gibt.


Cover des LeporelloWer ist die Strecke nicht schon gefahren? Vom Bodensee das St. Galler Rheintal hinauf, an Sargans und Chur vorbei, dann nach Thusis und über die A13 hoch zum Splügenpass oder über beziehungsweise durch den San Bernadino ins Tessin und weiter nach Italien. Es gibt keinen schnelleren Weg in den Süden. Die meisten nehmen das Auto, manche setzen sich aufs Motorrad, einzelne strampeln mit dem Rad die alten Landstraßen hoch. Aber zu Fuß?

Auf diese Idee kommen nur die wenigsten. Dabei gibt es zwischen dem Zusammenfluss von Vorder- und Hinterrhein (bei Reichenau) und dem Quellgebiet des Hinterrheins außergewöhnlich schöne, abwechslungsreiche und historisch bedeutsame Wege. Sie führen durch drei Ebenen mit unterschiedlicher Vegetation und Siedlungsgeschichte – zuerst durch das klimatisch fast südeuropäische Domleschg beim alten Warenumschlagsplatz Thusis. Dann übers Schamser Gebiet mit seinem italienisch anmutenden Hauptort Andeer. Und schließlich (auf rund 1500 Metern Höhe) das Rheinwald, einst Siedlungsgebiet der Walser:innen und eine der ersten Bio-Regionen der Schweiz. Wer durchmarschieren mag, braucht vier Tagesetappen von Reichenau bis zu den Pässen – würde aber manche Nebenwege, Höhenzüge und Sehenswürdigkeiten verpassen.

Wer hier wandert, kann sich vorstellen, wie mühsam das früher war, als es noch keine Verbrennermotoren und Asphaltstraßen gab, als sich Säumer mit Waren auf schmalen Pfaden durch die schmale Viamala quälten, als sich nur Wohlhabende einen Blick aus der Kutsche in die tiefen Schlucht und auf die sanften Hänge leisten konnten.

Wie der Warentransport hier vonstatten ging, hatte auch Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung der Städte rund um den Bodensee. Hier – in Konstanz, Ravensburg, Lindau und St. Gallen – hatte sich ab Anfang des 13. Jahrhunderts ein lebhafter Handel mit Leinwand entwickelt. Der rund um den See gesponnene, gewalkte und gefärbte Stoff ging über die Bünderpässe nach Italien und teilweise weiter bis Nordafrika und die Levante. Im Mittelalter war der Septimer zwischen Bivio und Casaccia im Bergell der meistgenutzte Übergang – ihn nutzten deutsche Kaiser und ihr Gefolge ebenso wie Händler auf dem Weg in den Süden. Er bot neben dem Großen St.Bernhard im Westen und dem Brenner im Osten die einfachste Route über den Alpenkamm.

Genossenschaftliche Wegbreiter

Das änderte sich erst, als die Hänge dort abgeholzt wurden, um neue Weidegründe zu erschließen und folglich immer mehr Lawinen abgingen. Und als sich, im Jahre 1473, Säumer aus der Region um Thusis zu einer – demokratisch kontrollierten – Transportgenossenschaft zusammenschlossen. Deren Zweck war, «die richstrass (…) zuo howen, uffzuorichten und ze machen», wie es im Gründungsdokument heißt. Konkret: die gefährliche Strecke durch die acht Kilometer lange Viamala («schlechter Weg») mit ihren senkrechten Felsen auszubauen und zu unterhalten, und die Warentransport auf mehreren Etappen («Porten») zwischen Chur und Chiavenna beziehungsweise Bellinzona unter den Genossenschaftern aufzuteilen und zu befördern. Wie wichtig dieser Übergang für die regionale Ökonomie war, zeigte sich übrigens beim großen Brand von Thusis im Jahr 1845, der die Lagerhäuser, Stallungen und Gasthöfe des Umschlagorts weitgehend zerstörte: Für den Wiederaufbau kamen Gelder aus Hamburg, Mailand, Lindau, Ravensburg (und auch Konstanz).

Das selbstverwaltete Porten-System bot der armen Bergbevölkerung bis ins 19. Jahrhundert hinein ein (karges) Auskommen. Das änderte sich jedoch allmählich, als die Straße hinauf zu den Pässen neu verlegt, verbreitet, untertunnelt und überbrückt wurde – und ziemlich schnell mit der Fertigstellung der Gotthardbahn 1882, die den Verkehrsstrom Richtung Westen (Bellinzona-Zürich-Basel) und weg von der Bodenseeregion verschob.

Mit verantwortlich für die Bau der neuen Kommerzialstraße (1821-1823) über den San Bernadino war übrigens der Journalist und Diplomat Peter Conradin von Tscharner. Dessen (sehr lesenswerte) Berichte über seine Wanderungen und Kutschfahrten in der Region hat jetzt, zum 200-jährigen Jubiläum des Straßenausbaus, Andreas Simmen in einem Sammelband neu herausgegeben.

Fast ein Splügener See

Aber wenden wir uns der Gegenwart zu – und einem anderen Buch: „Passland Viamala. Höhen und Täler am Hinterrhein – ein Kultur- und Wanderführer“. Mit ihm setzt der Zürcher Rotpunktverlag seine erfolgreiche Reihe etwas anderer – und erhellender – Wanderbücher fort. Diese bieten nicht nur eine breite Auswahl an Wanderungen mit allen nötigen Angaben (Routen, Gehzeiten, Höhenunterschiede, Unterkünfte). Sondern auch eine Vielzahl von Informationen zur kulturellen und politischen Geschichte der jeweiligen Gebiete, zu Arbeitsbedingungen heute und früher (etwa denen der italienischen Arbeiter, die praktisch das gesamte Schweizer Alpengebiet erschlossen hatten), zu baulichen Entwicklungen, zur technischen Erschließungsplänen, zu besonders markanten Ereignissen – und zu Widerstandskämpfen.

So auch im vorliegenden Band: Wer weiß heute noch, dass beispielsweise in den 1950er Jahren am Oberlauf des Hinterrheins ein Stausee geplant war, der den Ort Splügen samt Nahbardörfern versenkt hätte – und nur durch die Opposition der Talbewohner:innen verhindert wurde? Wer ahnt, dass im ebenfalls beschriebenen Seitental Avers die Eisenverhüttung dermaßen florierte, dass die gesamte Region abgeholzt wurde? Und wo sonst – wenn nicht aus diesem Buch – kann man etwas über Robert Lejeune erfahren, den bergverrückten Pfarrer von Andeer, Mitbegründer einer Krankenkasse, Flüchtlingshelfer und Genossen des einflussreichen religiösen Sozialisten Leonhard Ragaz?

Viele der empfohlenen Wanderwege folgen dem Lauf des Hinterrheins, mitunter aber geht es auch seitwärts hinauf, etwa zum Piz Beverin oder über dem Averser Rhein nach Juf, der höchsten ganzjährig bewohnten Siedlung der Schweiz.

Und auch wenn die Vorstellung schrecken mag, Täler zu durchwandern, in denen hin und wieder der Straßenlärm zu hören ist: Der Verkehr ist nicht omnipräsent – und wird vielerorts vor allem im Frühjahr vom Rauschen des Hinterrheins übertönt.

(pw)