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Leporellokritik: Kolonialismus in Lindau

«Elende verlorne Leut’»

12. April 2023 | Inzwischen hat es sich herumgesprochen: Auch am idyllischen Bodensee gab es schon früh Kaufleute, die ihren Reichtum auf unmenschliche Weise mehrten – durch den Handel mit Sklav*innen. Zum Beispiel in Lindau.


Cover des LeporelloMan hatte ihm den Namen «Real» verpasst, weil er angeblich einem Königshaus entstammte, ihn nach Europa verschleppt, dem 14-Jährigen in Lindau mit einer ziemlich pompösen «Mohrentaufe» zur Menschwerdung verholfen – und ihn danach als «Repräsentationssubjekt» dem Herzog von Württemberg geschenkt. So in etwa ließe sich die Geschichte des Jungen erzählen, der um 1643 herum in Westafrika auf die Welt kam und schon früh an einen portugiesische Sklavenhändler verkauft worden war.

Doch es gibt ja auch Täter. In diesem Fall den Lindauer Patriziersohn Joß Cramer, der als Vizekommandant einer Kolonial-Kompanie an der afrikanischen Goldküste amtierte und nur knapp ein Gemetzel überlebte. Gewissermaßen als Dank erwarb er «vier arme Seelen von Mohren aus dem Heidenthumb» und brachte «Real» 1657 nach Lindau, wo der Junge als « Heb- und Danck-Opffer Christo» vom Lindauer Prediger Jacob Fussenegger getauft wurde. Denn sonst wäre der Gerettete «sampt seinen mohrenländischen Leuten ... elend verlorne Leut’» geblieben. Lindaus damaliger Bürgermeister war einer der Taufpaten. Danach verschenkte Kramer den jetzt Christianus Geheißenen weiter.

Diese Geschichte ist nicht die einzige «Mohrentaufe» in Lindau, die Karl Schweizer in den Archiven fand. So vermerkte beispielsweise die «Chronik der Stadt Lindau» für das Jahr 1822, dass «ein afrikanischer Negersklave, genannt Dick (…)» ab 1800 «zu Berbice in Westindien bei dem damaligen Plantagenbesitzer Martin Matthias von Rader Sklavendienste» verrichtete und «anno 1820 von demselben bey seiner Niederlassung (…) in Aeschach» deponiert wurde. 1822 wurde «Dick», der in seiner Jugend aus dem Gebiet der heutigen Staaten Ghana und Togo entführt worden war, getauft. Sein Herr gehörte dem Großhändlergeschlecht der Raders an, das zu jener Zeit in der stadtadligen Lindauer Oberschicht an Einfluss verfügte und mehrere Bürgermeister stellte.

Ein seltener Aufklärer

Dabei gab es schon damals auch kritische Stimmen. «Wann wird die Zeit kommen, dass die Menschen alle menschlich werden und wieder anknüpfen die heiligen Bande der Bruderliebe, welche Ehrgeiz und Habsucht zerrissen haben?», hatte beispielsweise das «Reichsstadt Lindauische Intelligenz-Blatt» bereits im September 1782 gefragt. Damit begann eine fünfzehnteilige Artikelserie mit dem Titel «Nachrichten von der Behandlung und dem Zustande der Negersklaven in Guinea»; Herausgeber der damals einzigen Lindauer Zeitung war der Buchhändler Carl Fritzsch.

In den bemerkenswerten Beiträgen standen Sätze wie: «Mit diesem Seufzer sah ich oft gen Himmel, da ich einige neuere Nachrichten von den noch immer fortdauernden unmenschlichen Verfahren einiger Europäer gegen unsere schwarzen Brüder las, welche ihrer grausamen Herrschaft unterworfen sind.» Weshalb diese Anklage der «Obrigkeit Censur» entgangen war, der das Blatt laut Lindauer Ratsherrenbeschluss «unterworfen» sein sollte, ist unklar. Man kann aber davon ausgehen, dass sie einigen tonangebenden Leuten nicht sonderlich gefallen hat – beispielsweise dem Kaufmann Johann Bernhard Friedrich Romberg, der als Spediteur und Reeder vom Lindauer Nobelhotel «Krone» in der Ludwigstraße aus den Sklavenhandel seiner Firmen betrieb. Jedenfalls verließ der Verleger und Buchhändler Fritzsch 1792 wieder die Stadt.

«Unsere tapfere Krieger in Südwestafrika»

Karl («Charly») Schweizer hat über die Jahre hinweg viele solcher Geschichten zusammengetragen und auf der Website der edition inseltor lindau veröffentlicht. Sie reichen von der Frühzeit des europäischen Kolonialismus bis hin zu den deutschen Kolonialkriegen zu Beginn des 20. Jahrhunderts – und wer dabei aus Lindau und Umgebung eine Rolle spielte. Es könnten sich «noch immer Fahrer und Kanoniere (…) zu der Ersatzbatterie melden, die in einigen Wochen nach Südwestafrika abgehen wird», hieß es beispielsweise am 10. August 1904 im Lindauer Tagblatt.

Den Freiwilligen wurde eine finanziell attraktive Besoldung in Aussicht gestellt (deutlich über dem damals gezahlten Mindestlohn) – aber für den einfachen Söldner lohnte sich der Einsatz nicht unbedingt, hieß es doch im Tagblatt vier Monate später: «Von dem unseligen Kolonialkriege, den wir augenblicklich in unserem südwestafrikanischen Besitzungen zu führen gezwungen sind, hören wir leider nicht viel Erfreuliches …».

Damals führten die deutschen Militärs einen Vernichtungsfeldzug gegen die sich wehrenden Nama und Herero, und wurde dafür auch in Lindau gefeiert, wie Schweizer in seinem Artikel «Lindauer und ‚Deutsch-Südwest-Afrika‘, heute Namibia» eindrücklich schildert.

Überhaupt beschränkte sich der Historiker bei seinen akribischen Recherchen nicht auf lokalpolitische Begebenheiten, sondern spannt größere Bögen. So beschreibt er in einzelnen Kapiteln auch die elenden Transportbedingungen auf den Sklavenschiffen, die verheerenden Zustände auf dem Zuckerrohrplantagen oder beispielweise die Strafexpeditionen nach «Deutsch-Ostafrika» und die mörderische Unterdrückung der dortigen Bevölkerung.

Gut investiertes Preisgeld

Das Besondere an Schweizers Projekt: Seit kurzem gibt es dazu einen Leporello, der die kolonialistische Geschichte von Lindau und den umliegenden Orten thematisiert. Er besteht aus einem beidseits bedruckten Faltblatt mit Stadtplänen (die die Insel und Lindau-Aeschach zeigen) und Ortsangaben samt Ziffern, QR-Codes und Fotos enthalten; über die jeweiligen QR-Codes kommen die Nutzer*innen zu den (auch oben zitierten) Beiträgen auf der Website von edition inseltor Lindau. Allerdings sind diese in PDF-Form abgespeichert – was eine Lektüre am PC empfiehlt.

Hergestellt wurde das Leporello übrigens in einer Werkstätte für Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung; zudem bekamen die Schülerinnen und Schüler der Klassen 8 bis 12 der Lindauer Schulen insgesamt 1400 Exemplare kostenlos zur Verfügung gestellt. Die Kosten deckte Karl Schweizer mit dem Preisgeld des Lindauer Kulturpreises 2022.

Bestellungen unter edition-inseltor@gmx.de, Preis pro Stück: 3,90 Euro plus Versandkosten. (pw)