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Film- und Buchkritik: «Die unterbrochene Spur»

Das Handwerk des antifaschistischen Widerstands

20. Juni 2022 | Wie brachten Antifaschist:innen während der Nazizeit Verfolgte über die Grenze? Wer half ihnen? Was riskierten sie dabei? Über den antifaschistischen Widerstand in der Schweiz informiert ein beeindruckendes, lange vergriffenes Werk, das jetzt neu aufgelegt wurde.


Cover des Buchs «Die unterbrochene Spur»Anfang der 1980er Jahre. Langsam fährt ein Boot über den Konstanzer Trichter. An Bord: Der frühere Fluchthelfer Ernst Bärtschi, abgemagert und mit schlohweißem Haar. Und Paul Nusch, der während der Nazizeit zu Hause in Offenbach illegale Schriften vervielfältigte, von der Gestapo gesucht wurde, nach Konstanz floh und von Bärtschi mit einem Boot in Sicherheit, in die Schweiz, gebracht wurde.

«Da ist die Ecke, wo ich dich rausgeholt habe», sagt der frühere Kreuzlinger Aluminiumarbeiter Bärtschi – der sich von 1933 bis 1938 oft in geheimer Mission über die Grenze bewegt, Flugblätter auf die eine und Flüchtlinge auf die andere Seite geschafft hatte – und zeigt zum Hörnle hinüber. «Und dann sind wir ganz langsam bis zum Blinklicht und über den See». Rechts neben ihm sitzt Nusch mit Baskenmütze. «War ich ein guter Ruderer?», fragt der. Bärtschi: «In der Angst macht man vieles gut.» – «Nicht umsonst habe ich Blasen an den Händen gehabt!», antwortet Nusch und fügt hinzu: «Schwimmen hätte ich können.» Darauf Bärtschi: «Gegen einen Genickschuss hättest du aber nichts machen können.» Und während sie reden und das Boot über den See tuckert, läuft die Kamera.

Diese Szene hat Mathias Knauer für seinen Film «Die unterbrochene Spur» festgehalten. Weiter auf dem See berichtet dann Bärtschi, nach dem erst viel später in Konstanz ein Weg benannt wurde, wie er im Mai 1938 aufgrund der Schusseligkeit eines Genossen festgenommen und später vom Volksgerichtshof zu 13 Jahren Zuchtshaus verurteilt wurde, dass er in Haft seine Gesundheit einbüßte und nach seiner Freilassung am 8. Mai 1945 mittellos da stand: «Die Schweizer haben mich schön sitzen lassen», sagt er. «Nur die Deutschen haben eine Entschädigung gezahlt, die Schweizer nicht.»

Alles bekannt?

Die Episode zeigt, worum es in Knauers Film und im gleichnamigen Dokumentarband des großen Journalisten Jürg Frischknecht geht: Um Menschen, die sich in der Schweiz «mit frappanter Selbstverständlichkeit gegen Faschismus und Nationalsozialismus engagiert haben», wie der Historiker Jakob Tanner im Vorwort zur Neuausgabe schreibt. Und darum, wie die Schweizer Behörden mit ihnen umsprangen.

Für den Film – er kam 1982 erstmals ins Kino – hatte Knauer 150 Personen interviewt, während Frischknecht tief in den Archiven grub und beeindruckendes Material zutage förderte. Ihre Leitfragen damals, die auch heute noch interessieren, lauteten: «Wo haben sie gewohnt, die von den Nazispitzeln Gesuchten? Wo haben sie die Flugblätter geschrieben, gedruckt, die Koffer mit den doppelten Böden gepackt, wo die Illegalen versteckt? Wer hat sie beherbergt – die Flüchtlinge, die Spanienkämpfer, die Männer und Frauen des Widerstands im Exil?»

Inzwischen weiß man, wie die Schweizer Regierung gegen die antifaschistischen Exilant:innen vorging. Kaum waren die Nazis an der Macht, erteilte der Bundesrat (im April 1933) die Weisung, politischen Flüchtlingen nur vorübergehend einen Aufenthalt zu genehmigen, er ließ sie polizeilich überwachen, verbot ihnen politische Arbeit und jedwede Beschäftigung und sorgte dafür, dass Jüd:innen ein «J» in den Pass gestempelt wurde. Er steckte die Geflüchteten in Lager (unter anderen Sirnach im Kanton Thurgau) oder schickte sie wieder über die Grenze zurück.

Insgesamt gewährte die Schweiz nur weniger als einem Promille der Schutzsuchenden politische Asyl. Gegen diese Politik engagierten sich viele Organisationen – etwa die (kommunistische) Rote Hilfe, die sozialdemokratische Flüchtlingshilfe oder das Schweizerische Arbeiter-Hilfswerk (SAH). Die Fakten sind längst dokumentiert, beispielsweise in Stefan Kellers Buch «Grüningers Fall» über den St.Galler Polizeikommandanten Paul Grüninger (1993) oder in den Berichten der Bergier-Kommission (1996–2002). Was aber lange Zeit ausgeklammert blieb, so Tanner, war «der Antifaschismus im Alltag und das Handwerk des Widerstands.

Die Poststelle von Thayngen

Genau das zeigt der Film und beschreibt das Buch, das viele Zusatzinformationen enthält. Es lässt beispielsweise Lydia Sperling-Hug zu Wort kommen, die eine Vervielfältigungsmaschine in der Polsterwerkstatt des Vaters versteckt hatte, die genauso wenig entdeckt wurde wie die Matratzen, auf denen Flüchtlinge schliefen, «weil es zum Glück unter den Polizisten Sympathisanten gab». Der Druck illegaler Schriften, erzählt sie, sei übrigens eine hochkomplizierte Angelegenheit gewesen, weil man das Papier auf verschiedenen Wegen habe beschaffen müssen: «Man konnte nicht einfach in einem Geschäft eine große Menge Papier kaufen, das wäre aufgefallen.» Und es brauchte, damit niemand aufflog, «immer wieder eine andere Schreibmaschine».

Fast jede Woche hätten sie und ihre Mitstreiter:innen sechs oder sieben schwere Koffer gedrucktes Material an die Grenze geschafft, beispielsweise nach Thayngen, wo man im Grenzgebiet entlang der heutigen Haldenstrasse – an der Böschung oben die Schweiz, unten das Gemeindegebiet von Hilzingen – die Schriften in einem «Poststelle» genannten Loch vergrub. Aktionen dieser Art waren für Sperling-Hug selbstverständlich, denn daheim, im Zürcher Arbeiterquartier um die Erismannstrasse, habe man immer das Motto gehabt: «Solange ein Stücklein Brot im Haus ist, kann man das teilen.»

Ebenfalls im Grenzgebiet unterwegs war Karl Rhein aus Weil am Rhein, der 1933 in die Schweiz emigrierte, weil er immer wieder von der SA zusammengeschlagen worden war. Er engagierte sich bei der Roten Hilfe Basel, wechselte in der Illegalität ständig den Unterschlupf und schleppte manchmal bis zu 60 Kilogramm illegale Zeitungen nach Deutschland, bevor er als Freiwilliger bei den Internationalen Brigaden in den Spanischen Bürgerkrieg zog. Wieder zurück, wurde er in der Schweiz verhaftet und saß, wie er berichtet, bis zum Ende des Weltkriegs in Arbeitslagern für politische Inhaftierte.

«Faschistische Schweizer Behörden»

Noch schlimmer traf es den Basler Sozialisten Robert Kehrli. Dieser habe ¬ wie seine Tochter Paula Moser zu Protokoll gibt – oft Flüchtlinge über den Rhein gebracht oder von seinem Schrebergarten an der rechtsrheinischen Grenzacherstrasse Schriften über die nahe Grenze geschmuggelt, manchmal sogar im Invalidenwagen seines Bruders Fritz. 1934 verhaftet, wurde er zu fünf Jahren Kerker verurteilt. Keinerlei Hilfe habe ihre Mutter von den Schweizer Behörden erhalten, sagt Moser. Diese hätten «damals eine faschistische Politik betrieben», weil es «ihnen peinlich war, dass es Schweizer Antifaschisten gab, die den Antifaschisten in Deutschlnd geholfen haben und in Deutschland im Gefängnis saßen».

Der Film und das Buch erzählen viele solcher Geschichten, die viel über die damalige Schweiz aussagen – und gleichzeitig Hoffnung machen. Denn es gab ja auch Menschen wie Berta Urech, die im Zürcher Arbeiterviertel Wipkingen lebte, 1924 die Rote Hilfe mitbegründete, antifaschistischen Migrant:innen aus Mussolinis Italien unterstützte, und dann – als in Deutschland die Nazis herrschten – im Quartier Hilfe für die Geflüchteten organisierte. Das habe sie ganz offen gemacht, berichtet sie, und viel Zuspruch erfahren, auch unter «vielen Wirten», die lllegale aufnahmen.

Die Flüchtlinge brauchten ja nicht nur Essen und Unterkunft, sondern auch Wäsche, weil sie, die über den Rhein geschwommen waren, «nass hierher kamen». Auch Geld habe sie gesammelt, selbst in den besseren Kreisen sei was zusammen gekommen. Zwanzig Hausdurchsuchungen habe sie erlebt. «Aber nie haben sie einen Emigranten erwischt und nichts!»

Erinnerungen an die Zukunft

Faszinierend an diesem Doppelwerk ist die eindrückliche Selbstverständlichkeit, mit der – jenseits der Politik der offiziellen Schweiz – einfache Menschen einfach handelten: Da stellt ein Sattler Koffer mit doppelten Boden her. Da laden Arbeitslose jeden Tag ein bis zwei Flüchtlinge zum Essen ein. Da reisen Helfer ab 1938, als die Massenflucht aus Österreich einsetzte, nach Bregenz oder sogar Innsbruck, um Schutzsuchende abzuholen. Da gibt es im Süden ab 1943 eine enge Kooperation mit italienischen Partisan:innen.

Wer da zu welchen Mitteln griff, was sie heimlich oder auch offen taten und welche Risiken sie auf sich nahmen – darüber berichten nicht deckungsgleich, sondern einander ergänzend der ruhige Film und das faktenstarke Buch. Angesichts der zunehmenden Fremdenfeindlichkeit, des grassierenden Rassismus’ und der um sich greifenden völkischen Gesinnung ist es zentral, dass wir uns an die handwerklichen Fertigkeiten des antifaschistischen Engagements früherer Generationen erinnern. Wir brauchen sie noch. (pw)