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Buchkritik: Die Partisanenbiographie von Giacomo Notari
Ein grosses Herz
11. Mai 2015 | Die ZeitzeugInnen sterben allmählich weg, das Ende des Kriegs ist siebzig Jahre her. Wer erzählt noch ihre Geschichten? Das Istoreco des PartisanInnen-verbands von Reggio Emilia geht mehrere Wege.
Da stand er auf dem Staudamm von Ligonchio, die Dächlikappe wegen der Sonne tief in die Stirn gezogen, und zeigte übers Tal. Von dort drüben habe die deutsche Wehrmacht geschossen, um in den letzten Tagen vor der Befreiung Ende April 1945 noch das Elektrizitätswerk zu erobern, das die Deutschen zerstören wollten, erzählte Giacomo Notari. «Aber wir konnten das nicht zulassen. Sonst hätten die ganzen Bergtäler der Umgebung keinen Strom mehr gehabt.»
Und dann berichtete er vom harten Leben der PartisanenInnen, von den vielen Feuergefechten, vom Hunger, den Erfrierungen im kalten Winter 1944/45, den vielen Lungenentzündungen (weil sie niemals aus den nassen Kleidern herauskamen) – aber auch von der Geschlossenheit der Bergbevölkerung und dem heroischen Einsatz der Frauen, die Lebensmittel beschafften, Waffen schmuggelten und Botengänge verrichteten: «Ohne sie wäre der Widerstand nicht möglich gewesen», sagte Notari, der später Bürgermeister von Ligonchio wurde.
Viele Initiativen
Giacomo Notari erzählte diese Geschichte vor sechs Jahren, und alle, die damals an der WOZ-LeserInnenreise zu den PartisanInnen von Reggio Emilia teilnahmen, hingen an seinen Lippen. Heute ist der frühere Partisan 87 Jahre alt. Und so sehr er das Leben auch geniesst – es währt nicht ewig. Was tun, um solche Zeugnisse der Nachwelt zu erhalten? Diese Frage treibt das Geschichtsinstitut Istoreco des PartisanInnenverbands ANPI von Reggio Emilio seit langem um. Es leistet seit Jahrzehnten eine vorzügliche Bildungsarbeit (in Italien stand der Faschismus jahrzehntelang nicht auf den Schullehrplänen): Es veranstaltet jährlich Fahrten für Hunderte von italienischen SchülerInnen nach Auschwitz, Berlin oder Prag, lädt jeden Herbst zu inzwischen legendären Wanderungen auf PartisanInnenpfaden ein und organisiert viele Reisen zur politischen Geschichte und Gegenwart in Norditalien (darunter auch drei WOZ-Reisen). Aber was, wenn die ZeitzeugInnen nicht mehr leben?
Die Authentizität, die sich in persönlichen Begegnungen ergibt, ist künstlich nicht zu herzustellen. Doch es gibt Wege, zumindest das Wissen und die Erfahrungen weiterzugeben. So hat das Istoreco zusammen mit anderen vor Jahren die Webseite European Resistance Archive aufgebaut, die Gesprächsvideos mit antifaschistischen WiderstandskämpferInnen bereit hält (auch Notari ist dabei). Danach stellten Matthias Durchfeld und Steffen Kreuseler vom Istoreco ein – auch deutschsprachiges – PartisanInnen-Wanderbuch mit vielen Sachinformationen online, drehten Filme über die italienische Resistenza wie «Die Geige aus Cervarolo» und kürzlich «Sabotari» («Saboteure») – und besorgten jetzt die deutsche Buchfassung von Notaris Erinnerungen.
Ein Leben in den Bergen
«Ihr Partisanen, nehmt mich mit Euch!», heisst der schmale Band; «Renn ruhig, du hast ein grosses Herz», lautet der Titel der 2010 erschienenen Originalfassung. Im Buch schildert der alte Partisan, wie mühsam und armselig das Leben in den Bergtälern gewesen war – und wie sich plötzlich alles änderte, als im Sommer 1943 Benito Mussolini gestürzt wurde und im September 1943 die deutschen Nazis Norditalien besetzten, die italienischen Faschisten junge Männer zum Wehrdienst einzogen, an die Weltkriegsfronten oder zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppten, aber viele in die bewaldeten Hügel des Apennins flüchteten und sich dort den AntifaschistInnen anschlossen.
Notari – er war damals siebzehn Jahre alt – nahm die entgegengesetzte Richtung. Er meldete sich freiwillig zum Militärdienst, weil er in den Kasernen Soldaten zum Desertieren bewegen wollte (was ihm auch gelang) und schloss sich den PartisanInnen erst an, als seine Einheit nach Como verlegt wurde. Nach seiner Rückkehr – zu Fuss und nur möglich dank der vielfältigen Unterstützung, die er von einfachen Leuten bekam – kämpfte er in den Bergen und war dabei, als rund 500 AntifaschistInnen erfolgreich das Wasserkraftwerk von Ligonchio verteidigten.
Das Buch, übersetzt von Steffen Kreuseler, erzählt eine persönliche Geschichte. Man erfährt viel über Notaris Durchhaltevermögen und das seiner KampfgefährtInnen, ihren Mut, ihr Leiden und ihre Hoffnungen. Man hätte natürlich auch gern gewusst, wie er – der KPI-Aktivist, Abgeordnete, Gewerkschaftssekretär, Genossenschaftspräsident und Regionaldezernent – die grossen Entwicklungen nach der Befreiung sah, wie er beispielsweise den verdeckten Bürgerkrieg der italienischen Rechten gegen die Linke erlebte, und was er empfand, als 1991 die KPI, für die er sich so engagiert hatte, kollabierte. Aber die grosse Politik war eher nicht seine Welt.
Dennoch ist das Buch von grossem Wert: Weil es dazu beiträgt, dass nicht vergessen wird, was nicht vergessen werden darf. Und weil es von einem geschrieben wurde, der bis heute für eine bessere Welt eintritt. (pw)