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Buchkritik: «August Bebel, Kaiser der Arbeiter»
Revolutionär, Pragmatiker, Politstar
19. August 2013 | Er war die wichtigste Figur der deutschen Sozialdemokratie im 19. Jahrhundert und ist mit seinen Ideen heute noch aktuell. Ein exzellentes Buch beschreibt August Bebel mit all seinen Widersprüchen.
Am hundertsten Todestag, die offizielle Feier ist längst vorbei, tritt eine kleine Gruppe an das Grab von August Bebel im Zürcher Friedhof Sihlfeld. Sie kämen von einem kurdischen Arbeiterbildungsverein, sagt einer von ihnen, und seien seit drei Jahren jedes Mal am 13. August hier. Hatte nicht Bebel durch sein Engagement in Bildungsvereinen die linken Kräfte einigen können? Das würden sie auch für die MigrantInnen in Zürich anstreben, erläutert der kurdische Linke, legt ein Blumengebinde mit handgeschriebener Widmung vor den Grabstein, tritt zurück, blickt kurz auf die Schleife am Kranz der deutschen SPD und der schweizerischen SP mit der Aufschrift «Dem ‹Arbeiterkaiser› in ehrendem Gedenken» und sagt: «Das hat Bebel nicht verdient.» Dass die deutsche Linkspartei Blumen niedergelegt habe, sei ja völlig in Ordnung. Doch die SPD? «Die interessiert sich nicht mehr für die Arbeiter, die paktiert längst mit den Kapitalisten».
Es gibt also noch Linke, die sich ernsthaft mit dem grossen deutschen ArbeiterInnenführer und dessen Vermächtnis auseinandersetzen, seine Schriften lesen und die aktuelle Politik daraufhin abklopfen. Gross war der in bitterarmen Verhältnissen aufgewachsene und früh verwaiste Bebel ja auch gewesen. Und das gleich in vielerlei Hinsicht: Der unermüdliche Organisator, rastlose Agitator, Theoretiker und langjährige Reichstagsabgeordnete schaffte es als einfacher Drechslergeselle, einen florierenden Handwerksbetrieb aufzubauen. Er vereinte mit viel Geschick die verschiedenen politischen Flügel des in Deutschland gerade entstehenden Proletariats zu einer Massenbewegung, die selbst der preussische Obrigkeitsstaat mit seinen Sozialistengesetzen (1878 - 1890) nicht zerschlagen konnte. Er war ein Volksheld, der gefährlichste Gegenspieler des deutschen Kanzler Bismarck, ein wortgewandter Verfechter der sozialen Gerechtigkeit – und fand trotz der Doppelbelastung als Unternehmer und Politiker Zeit, sich um in Not geratene Menschen zu kümmern.
Vor allem aber blieb Bebel – anders als seine heutigen Nachfahren an der SPD-Spitze – seinen Prinzipien treu. So lehnte er 1870 in einer parlamentarischen Grundsatzrede den deutsch-französischen Krieg 1870/71 und den Kriegskredit mit Hinweis auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker ab. Stattdessen forderte er völkerrechtliche Standards und entwarf die Vision eines friedlichen Europas jenseits des «reaktionären Nationalitätsprinzips».
Genossenschaften und Vergesellschaftung
War August Bebel also eine sozialistische Lichtgestalt, ein makelloser Held der Arbeiterbewegung, der selbstlos viele Opfer brachte (darunter über vier Jahre Festungshaft wegen Hochverrats und Majestätsbeleidigung)? Nicht ganz. In seinem gut dokumentierten Buch beschreibt der Berliner Historiker Jürgen Schmidt sprachlich präzise und anschaulich Bebels teilweise widersprüchliches Wirken und schildert dessen persönlichen Aufstieg im Kontext des materiellen und politischen Aufstiegs der deutschen Arbeiterklasse während des Kaiserreichs. Und weil der Autor die Materie beherrscht und Bebels Selbstdarstellungen nicht unwidersprochen hinnimmt, zeichnet Schmidt ein differenziertes Bild von dieser Ausnahmefigur, das zugleich die damalige Zeit erfahrbar macht.
Bebel setzte sich als erster deutscher Politiker für die Gleichheit der Geschlechter ein (sein Buch «Die Frau und der Sozialismus» war ein Bestseller), blieb im innerfamiliären Bereich aber ein Patriarch. Er wurde durch das Buch und das (lange Zeit von seiner Frau Julie geführte) Handwerksunternehmen steinreich, stand jedoch stets auf Seiten der Armen. Er hielt (wie Karl Marx) den grossen «Kladderadatsch», den Untergang des kapitalistischen Systems, für unumgänglich – und glaubte an den Fortschritt. Er sah sich als «Todfeind dieser bürgerlichen Gesellschaft und dieser Staatsordnung», warnte stets vor den Gefahren des Revisionismus und Reformismus in der Sozialdemokratie – und wäre bereit gewesen, Deutschland gegen Angriffe von aussen zu verteidigen. Er stand für die marxistische Ausrichtung der Sozialdemokratie, liess aber Marx und Friedrich Engels (mit denen er befreundet war) nicht ins Tagesgeschäft hineinreden. Er empfand den Parlamentarismus «als gute Schule der Versumpfung» – und war gleichzeitig mit Leib und Seele Reichstagsabgeordneter. Er trat zuweilen oberlehrerhaft auf und hatte doch wie kein anderer einen direkten Draht zum Proletariat, das in ihm – dem zeitweiligen Villenbesitzer am Zürichsee – all seine Hoffnungen verkörpert sah.
Zu Bebels Popularität trug bei, dass er eine leuchtende Zukunft ausmalen konnte. In seiner Broschüre «Unsere Ziele» (1872) stellte er dem Publikum die (heute noch aktuelle) «Umwandlung der kapitalistischen Produktion in die genossenschaftliche» Wirtschaftsordnung in Aussicht, die der Staat neben der Vergesellschaftung von zentralen Einrichtungen wie der Eisenbahn anstreben müsse. Fünf Jahre später verlangte er in einer Reichstagsrede, dass «die Arbeitsmittel im weitesten Sinne des Worts, also auch der Grund und Boden, zum Gesellschaftseigentum» gemacht werden.
Fordern und fördern
Gleichwohl war Bebel auch eine tragische Figur, vergleichbar dem Sisyphos: Bei allen parteiinternen Auseinandersetzungen um den Reformismus habe der Mitbegründer der damals weltweit stärksten Arbeiterpartei «eine Schlacht nach der anderen» siegreich beendet, «doch den Krieg konnte er nicht gewinnen», schreibt Schmidt – und erläutert, weshalb es aus seiner Historikersicht in Deutschland damals nicht zur Revolution kam, nicht kommen konnte.
Schmidts Buch ist weit mehr als nur eine Biografie. Nach der Lektüre hat man auch begriffen, was die Stärken dieser Partei während ihrer Gründerzeit ausmachte, wie problematisch ihr Verhältnis zu den Gewerkschaften war und worin ihre Probleme heute liegen. Gleich zwei Mal verwendet Schmidt in seinem Buch die Worte «fordern und fördern» – das eine Mal in Zusammenhang mit Bebels Unzufriedenheit über die Halbherzigkeit der sozialdemokratischen Arbeitervereine, das andere Mal in Bezug auf die Partei.
Das Begriffsduo «fördern und fordern» war freilich auch das Leitmotto von SPD-Kanzler Gerhard Schröder, mit dem er der Öffentlichkeit seine Arbeitsmarktreform der «Agenda 2010» verkaufte. Und es richtete sich nicht nach innen, als Appell an die rot-grüne Regierung, sondern gegen die Armen. Ihnen wurden Sozialleistungen gekürzt («fordern») und Billiglohnjobs («fördern») aufgezwungen. In diesem Punkt haben die KurdInnen auf dem Friedhof Sihlfeld recht: August Bebel wäre es nie eingefallen, auf die Ärmsten der Gesellschaft einzuschlagen. (pw)