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Buchkritik: «Vergangenheitspolitik»

Als alle Parteien die Entnazifizierung stoppten

7. Januar 2013 | Ein Buch analysiert auf Basis historischer Quellen, wie es dazu kam, dass sich bis in die 1960er Jahre hinein in Deutschland niemand mit der NS-Vergangenheit auseinandersetzte.


Titelblatt «VergangenheitspolitikEs hat bekanntlich sehr lange gedauert, bis sich die bundesdeutsche Gesellschaft ernsthaft mit der Nazizeit und den während des «Dritten Reichs» begangenen Verbrechen zu beschäftigen begann. Erst ab Mitte der achtziger Jahre setzte die sogenannte Vergangenheitsbewältigung ein: Die Opfer wurden sukzessive rehabilitiert, Firmen liessen allmählich (unter öffentlichem Druck) ihre Nazigeschichte überprüfen, HistorikerInnen publizierten viele Untersuchungen über die Verbrechen der Wehrmacht, der Justiz, des Aussenministeriums oder die Nazivergangenheit von JournalistInnen, in Berlin wurden Denkmäler eingeweiht – kaum eine andere europäische Gesellschaft hat sich so umfassend mit jener Zeit auseinandergesetzt. Das war angesichts der deutschen Geschichte ja auch bitter nötig.

Und doch verblüfft, wie wenig die Öffentlichkeit heute noch über die ersten Jahre «der Bewältigung der frühen NS-Bewältigung» weiss – über die Anfangszeit der BRD, als sich alle Bundestagsfraktionen darin einig waren, dass die von den Alliierten von 1945 bis 1949 betriebene Entnazifizierung sofort beendet werden muss. Nicht nur die von Altnazis durchsetzte Adenauer-Regierung oder die «rechtsnationale Klientelpartei FDP», auch die damals «schroff anti-alliiert und betont national» eingestellte SPD wollte unbedingt einen Schlussstrich ziehen. «Im Herbst 1949, sofort nach Eröffnung des Bundestages, begannen in allen Fraktionen Bemühungen um eine Beendigung, zum Teil sogar Rückgängigmachung der politischen Säuberung, wie sie die Allierten seit 1945 durchgesetzt und wie sie die von ihnen lizensierten demokratischen Parteien zunächst auch mitgetragen hatten», schreibt der Historiker Norbert Frei. Dabei ging es «in erster Linie um Strafaufhebungen und Integrationsleistungen zugunsten eines Millionenheers ehemaliger Parteigenossen, die fast ausnahmslos in ihren sozialen, beruflichen und staatsbürgerlichen Status quo ante versetzt», mithin rehabilitiert wurden.

Und so war in den Bundestagsdebatten, in deren Gefolge das Straffreiheitsgesetz von 1949 (und fünf Jahre später das Straffreiheitsgesetz von 1954) verabschiedet wurden, nicht von den Verbrechen des NS-Regimes die Rede, sondern höchst allgemein von den «Wirrnissen» der letzten Jahre – und von der Norwendigkeit, «Vergessen über die Vergangenheit zu decken». Vorgelegt hatten das 1949er Gesetz übrigens Fachbeamte des Justizministeriums, und die waren, wie Frei schreibt, «fast alles ehemalige Parteigenossen».

Wie kam es dazu? Welche Kräfte und Allianzen sorgten dafür, dass zahllose Kriegsverbrechen ungeahndet blieben, von den Alliierten verurteilte NS-Schergen frühzeitig freikamen, Hunderttausende von Nazibeamten wieder i­hren Dienst antreten konnten und die Mehrzahl der Gestapoleute in ihre alten Bamtenrechte eingesetzt wurde?

In seinem Buch «Vergangenheitspolitik» analysiert Norbert Frei die machtpolitischen Verhältnisse in den Jahren 1949 bis 1954. Es zeigt, wie sehr das «neue» Deutschland in der NS-Vergangenheit verstrickt blieb. Es schildert, welchen Druck die Militärs ausübten, die ab dem Koreakrieg mit neuem Selbstbewusstsein auftraten und im Zuge der Debatte um die Wiederbewaffnung (1950/51) die Parole ausgaben: «Ohne Freilassung der wegen Kriegsverbrechen verurteilten Kameraden kein Wehrbeitrag!» Und es dokumentiert auf eindrückliche Weise, wie es der extremen Rechten gelang, das Regierungslager und die sozialdemokratische Opposition nach rechts zu drängen.

Aber wieso konnte das funktionieren? Eine Rolle spielte dabei sicherlich der kurz nach der Befreiung einsetzende Kalte Krieg: Die Antifa-Komitees, die in den ersten Wochen und Monaten mit dem Wiederaufbau begannen, wurden von den Alliierten entmachtet; an ihre Stelle rückte meist der alte Beamtenapparat. Doch das war es nicht allein. Die Rechten konnten sich durchaus auch auf die Stimmung in der Bevölkerung stützen. «Die Amnestien für NS-Strattäter, die Reintegration der ‹Säuberungsopfer›, die Freilassung der Kriegsverbrecher (…) zeitigten Wirkung weit über den Kreis der konkret Begünstigten hinaus», schreibt Frei.

«Alles zusammen diente offensichtlich auch der Befriedigung kollektiver, psychischer Bedürfnisse einer Gesellschaft, die in den vierziger Jahren durch eine beispiellose politische und moralische Katastrophe gegangen war und deren Erinnerung seitdem tief verstörende Desintegrationserfahrungen barg.» Dieser Faktor, so Freis These, prägte nicht nur «die Mehrheit der Mitläufer», sondern auch «die Minderheit der Opfer», deren «weitgehendes Schweigen, ja Zustimmung» den «Kurs der inneren Befriedung begleiteten».

Freis Studie ist (wenn auch zuweilen arg akademisch geschrieben) im Bereich der offiziellen Politik hervorragend recherchiert und lesenswert – obwohl sie, und das ist ein Manko, die Rolle der KPD (die ja im ersten Bundestag ebenfalls präsent war) und die der antifaschistischen Kräfte damals weitgehend ausblendet. Denn es gab ja, trotz aller Hindernisse, auch in jener Zeit eine Bewegung von unten. (pw)