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Buchkritik: «Adolfo Kaminsky. Ein Fälscherleben»

Der unerkannte Held vieler Bewegungen

22. Dezember 2011 | Mit Schreibmaschine, Löschpapier, Chemikalien und Tinte hat Adolfo Kaminsky Tausenden das Leben gerettet. Ein neues Buch erzählt die unglaubliche Geschichte eines der grössten Fälscher des 20. Jahrhunderts.


Titelblatt «Adolfo Kaminsky. Ein Fälscherleben»Paris im Januar 1944. Julien Keller, siebzehn Jahre, gelernter Färber, sitzt in der Metro, als plötzlich Schritte knallen und Stimmen befehlen: «Ausweiskontrolle!» Keller tritt der Angstschweiss auf die Stirn: Wenn sie mich jetzt erwischen, ist alles vorbei, denkt er. Nach aussen wirkt er jedoch gelassen, denn er ist sich sicher, dass seine Papiere in Ordnung sind: «Schliesslich habe ich sie selbst fabriziert.» Die Papiere gehen durch. Aber die Aktentasche mit fünfzig französischen Personalausweisen, einer Feder, Tinte und einem Stempel, versteckt unter einem Vesperbrot? Keller wird von einem Milizionär scharf gemustert. «Ich schenkte ihm mein einfältigstes Lächeln. Das konnte ich immer, wenn es nötig war: dumm aussehen.»

Da hat er wieder Glück gehabt, wie so oft in seinem Leben. Nein, nicht Julien Keller, dieser Name stand nur auf dem Ausweis. Sondern Adolfo Kaminsky, der mit gerade achtzehn Jahren («siebzehn» hatte er in den Ausweis eingetragen, um dem Arbeitsdienst zu entgehen) ein Labor der französischen Résistance leitete. Und der oft selber die von ihm gefälschten Papiere bei jenen Juden und Jüdinnen vorbeibrachte, die am nächsten Morgen abgeholt werden sollten. Was sie erwarten würde, hatte der 1925 in Argentinien geborene Sohn russischer Eltern, die mit ihm nach Frankreich gekommen waren, selber erlebt. Er und seine jüdische Familie waren im Sommer 1943 verhaftet und in das Lager Drancy gebracht worden, wo täglich Transporte in die Todeslager der Nazis abgingen. Die Kaminskys überlebten nur durch Zufall und dank ihrer argentinischen Staatsbürgerschaft.

Dreissig Papiere, dreissig Leben

Kurz danach entdeckte ein Mitglied des jüdischen Untergrunds die Fertigkeiten des jungen Adolfo, der bereits mit vierzehn an Tinte herumexperimentiert hatte. Und so druckte Kaminsky bald Demobilisierungsformulare; er brachte «unlöschbare» Tinte zum Verschwinden, fälschte Unterschriften und entwickelte die Fertigkeit, selber Ausweise und amtliche Bestätigungen herzustellen. Die Nachfrage wuchs, die Nazis und ihre Kollaborateure deportierten immer mehr Menschen, und so arbeitete er bald Tag und Nacht daheim und im Labor an der Rue des Saints-Pères, pausenlos, bis zur völligen Erschöpfung. Dreissig Ausweise in der Stunde, das waren dreissig Menschenleben – wer hätte da schlafen können? All dies hat Adolfo Kaminsky seiner Tochter Sarah erzählt, die in den ersten drei Jahrzehnten ihres Leben keine Ahnung von seinem früheren Leben hatte. Für sie war ihr Vater immer nur Fotograf und Sozialarbeiter gewesen. Und als sie ihm endlich seine Geschichte entlocken konnte, hat sie recherchiert, viele Zeug­Innen befragt und alles aufgeschrieben.

Das Buch «Ein Fälscherleben» endet nicht mit der Befreiung von Paris. Im Gegenteil. Denn danach begann Kaminskys verschwiegene Karriere erst richtig. Die französische Armee, bei der er kurz diente, verliess der überzeugte Antikolonialist, als er Indochina-Karten vervielfältigen sollte. Dann klopften zionistische Organisationen bei ihm an. Nach langem Zögern und erst, nachdem er in Süddeutschland verzweifelt marodierende Kinder aus den KZ gesehen hatte, fälschte er massenweise Kollektivvisa für die illegale Einwanderung von KZ-Überlebenden nach Palästina. Doch nach Israel, zu dessen Gründung er auf seine Art beigetragen hatte, wollte Kaminsky nie. Er blieb lieber in dem Land, «das sich für die Trennung von Staat und Religion entschieden hatte».

Stets unabhängig gedacht

Ausserdem gab es für ihn in Frankreich bald genug zu tun. Anfang 1954 begann der algerische Unabhängigkeitskrieg, und kurz darauf tauchte Kaminsky erneut unter – um Dokumente zu fälschen, die alten Waffen der Résis­tance auszugraben und sogar um Banknoten zu fälschen, mit denen die französische Wirtschaft hätte destabilisiert werden sollen. Er unterrichtete GegnerInnen des faschistischen Franco-Regimes in der Kunst des Fälschens, bekam Kontakt mit afrikanischen Befreiungsbewegungen und produzierte Ausweise für US-amerikanische Kriegsdienstverweigerer, die den Vietnamkrieg ablehnten.

Die Liste der Befehlsverweigerer, Revolutionärinnen, Demokraten, Antikolonialistinnen, denen er half, ist schier endlos. Er unterstützte mit Pässen, Führerscheinen, Zertifikaten, Passa­gierscheinen und Bestätigungen aller Art fortschrittliche Gruppierungen in Zentral- und Südamerika, südafrikanische ApartheidgegnerInnen, Unabhängigkeitsbestrebungen in halb Afrika, die Opposition gegen die griechischen Obristen – und sparte gleichwohl nicht mit Kritik, wenn die von ihm geförderten Bewegungen oder Staaten wie Israel oder Algerien später die Menschenrechte missachteten. Kaminsky hat stets unabhängig gedacht und ist immer skeptisch geblieben – sonst wäre er, der stets gratis arbeitete, irgendwann einmal aufgeflogen.

Seine aufschlussreichen Schilderungen sind unglaublich spannend zu lesen. 1971 hörte er schliesslich auf. Warum? Nun, das ist auch so eine atemberaubende Geschichte gewesen. An der grossen Einsamkeit in den Labors und Dunkelkammern, an der Klandestinität (die viele seiner Beziehungen scheitern liess) oder an dem permanenten Druck, dem er sich über drei Jahrzehnte hinweg unterworfen hatte, lag es jedenfalls nicht.

Gegen Ende dieses grossartigen Buchs erzählt der unerschütterliche Utopist – wie sich Kaminsky selber nennt – wovon er heute noch, mit 86 Jahren, träumt: von einer besseren Welt, «in der niemand einen Fälscher braucht».(pw)