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Buchkritik: «Wettlauf um die grossen Nordwände»
Immer dieselben 1800 Höhenmeter
12. Mai 2011 | Es gibt viele Nordwände in den Alpen, aber nur eine erzeugt so viele Bücher. Und die erzählen oft die gleiche Geschichte – von ein paar Ausnahmen abgesehen.
Nicht schon wieder, war die erste Reaktion. Und: Hört das denn nie auf? Hatten wir nicht ab früher Jugend alles in uns reingestopft, was mit dieser verdammten Wand zu tun hat? Anderl Heckmairs «Die drei letzten Probleme der Alpen» (erschienen 1949) nachts unter der Bettdecke gelesen und Heinrich Harrers Buch «Die weisse Spinne», diese arg pathetische und nicht besonders faktennahe Schilderung der Erstbegehung (Erstausgabe: 1958), verschlungen? Und kannten wir nicht alle die Stationen auf dem Weg nach oben auswendig – den Zerschrundenen Pfeiler, den Hinterstoisser-Quergang, das Schwalbennest, die drei Eisfelder, das Todesbiwak, den Götterquergang, die Spinne, die Ausstiegsrisse, das Gipfeleisfeld?
Uns sind auch nicht die Bücher des Pioniers des deutschsprachigen Alpinjournalismus entgangen. In den sechziger Jahren hatte Toni Hiebeler, der die Wand erstmals im Winter durchstieg, einen Band mit dem Untertitel «Der Tod klettert mit» veröffentlicht und dann in den frühen siebziger Jahren nochmals ein Buch zum selben Thema publiziert. Natürlich wollten auch wir da rauf, das war ausgemachte Sache. Und wenn uns nicht die blöde Politik dazwischengekommen wäre, der Vietnamkrieg, die SchülerInnenbewegung 1968, die vielen Demos auch in der Provinz – dann, ja dann …
Je bescheidener unsere Bergziele wurden, weil wir in den Ebenen Flugblätter verteilten, desto mächtiger strengten sich die Verlage an. Bücher über die Eigernordwand sind noch immer ein Renner; die «Mordwand» fasziniert weiterhin, obwohl sie längst nicht mehr ein Massstab für bergsteigerische Spitzenleistungen ist. Das liegt zum einen an der Sichtbarkeit der hochgestellten 1800 Meter, die jedes Jahr Zehntausenden von TouristInnen in Grindelwald und auf der Kleinen Scheidegg einen Schauer über den Rücken jagen. Und an den ersten Besteigungsversuchen, die etliche Opfer forderten (und die noch immer vermarktet werden, siehe den Spielfilm «Nordwand» von Philipp Stölzl, der mittlerweile auch im Fernsehen gezeigt wird).
Und doch erscheinen hin und wieder Bücher, die lesenswert sind weil sie die Geschichte der Erstbegehung in einen gesellschaftspolitischen Kontext setzen. Daniel Ankers «Eiger. Die vertikale Arena» (AS-Verlag, vierte Auflage, 2008) ist mittlerweile ein – immer noch lesenswerter – Klassiker. Rainer Rettners «Eiger. Triumphe und Tragödien 1932-1938» (ebenfalls beim AS-Verlag und pünktlich zum 70. Jahrestag der Erstbesteigung 1938 publiziert) besticht durch eine enorme Informationsdichte und zahlreiche neue Dokumente. So hat Eigerforscher Rettner, der mit Anker zusammen einen Bildband über das «Corti-Drama» von 1957 herausgab (vier Bergsteiger stürzten damals ab, nur einer konnte in einer spektakulären Aktion gerettet werden), ein bemerkenswertes, lange Zeit unentdeckt gebliebenes Foto ausgegraben. Es dokumentiert die Naziverbundenheit der österreichischen Nordwanderstbegeher Heinrich Harrer (der sich schon 1933 der SA angeschlossen hatte) und Fritz Kasparek. Sie hatten ihr Zelt am Fuss der Wand mit einem Hakenkreuzwimpel geschmückt. (Die beiden deutschen Erstbesteiger Anderl Heckmair und Ludwig Vörg waren dagegen eher unpolitische und zuweilen aufmüpfige Bergvagabunden gewesen.)
Nun hat Rettner ein weiteres Buch vorgelegt: «Wettlauf um die grossen Nordwände». Es beschränkt sich erstens – und das ist ein grosses Plus – nicht nur auf den Kampf um die Eigerwand, sondern schildert auch die (teilweise nationalpatriotisch befeuerten) Rivalitäten bei der Erstbesteigung der Matterhorn-Nordwand und den Erstbegehungen an der Nordwand der Grandes Jorasses, den beiden anderen «letzten Problemen» im Alpenraum. Zweites Plus: Kein anderes Buch fasst das, was in den dreissiger Jahren die AlpinistInnenszene schwer beschäftigte, so informativ und anschaulich zusammen. Und die Fotos, ein drittes Plus, sind exzellent.
Besonders beeindruckend aber sind die Porträts, die eben nicht nur die Medienhelden der dreissiger Jahre zum x-ten Mal beschreiben, die Heckmairs, die Harrers, die Riccardo Cassins oder die Schmid-Brüder Franz und Toni. Sondern die auch an längst vergessene und nicht weniger kühne AlpinistInnen erinnern. An Alfred Horeschowsky zum Beispiel, an Giusto Gervasutti, an Gino Esposito – oder an Loulou Boulaz. Diese Spitzenbergsteigerin war in der damaligen Männerdomäne Bergsteigen vielen Anfeindungen ausgesetzt und hat trotzdem ihren Weg über viele schwierige Wände gefunden. Noch im hohen Alter beteiligte sich die linke Genferin an Demonstrationen und Flugblattaktionen. «Wettlauf um die grossen Nordwände» ist ein aufschlussreiches und höchst lesenswertes Buch. Aber hoffentlich auch der Endpunkt der Nordwandbeschreibungen. Denn es reicht, liebe Verlage! Mehr wollen wir wirklich nicht mehr wissen. Und mehr Platz zu diesem Thema gibts auch nicht in meinem Buchregal. (pw)