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Buchkritik: «Bibliothek des Widerstands
Projekt Gedächtnis
9. September 2010 | Seit Frühjahr publiziert der Laika-Verlag eine Serie von Büchern und Filmen über linke Widerstandsbewegungen ab den sechziger Jahren. Ein grandioses Unterfangen.
Der Globus-Krawall im Sommer 1968 – wer erinnert sich noch daran? Wer weiss noch, was damals geschah, als Lehrlinge und StudentInnen durch Zürichs Strassen zogen, das Renditedenken der kapitalistischen Konsumgesellschaft anprangerten und ein autonomes Jugendzentrum forderten? Wie Stadtrat, Polizei und Justiz auf die Proteste reagierten, wie die Medien von NZZ über «Blick» bis zum Schweizer Fernsehen den Aufruhr kommentierten und Informationen unterschlugen? Und welch kluge Worte der Schriftsteller Walter M. Diggelmann an einer Vollversammlung im Volkshaus fand, als er davor warnte, sich von den jungen SteinewerferInnen zu distanzieren?
Vergessen und vorbei. Und doch nicht ganz. Denn der Hamburger Laika-Verlag hat zu den Krawallen kürzlich ein Buch und eine DVD publiziert. Im Textteil der Dokumentation erzählt Wolfgang Bortlik, wie er als junger Zugereister die Schweiz erlebte, welche Stimmung herrschte, als Jimi Hendrix nach Zürich kam, wie die Polizei nach dem Konzert das Publikum vermöbelte und sich danach der seit langem schwelende Unmut über die spiessbürgerlichen Verhältnisse Luft verschaffte. Oliviero Pettenati schreibt, wie sich die globale Revolte von 1968 auf die Schweiz auswirkte, Roland Gretler erinnert sich an die Demonstrationen und den Kampf für ein AJZ, und der Rockmusiker und Freejazzer Mani Neumeier erläutert in einem Interview, welche befreiende Wirkung die Revolte hatte: «Wir dachten: Jetzt verändern wir alles, jetzt haben wir es gepackt.»
Geschichte von links
Die eindrücklichen Beiträge würden schon einem reinen Textbuch gut anstehen, doch die Dokumentation bietet mehr – hervorragende Archivfotos aus Gretlers «Panoptikum zur Sozialgeschichte» und auf einer beigelegten DVD den Film «Krawall» (1969). Jürg Hassler charakterisiert in seinem Agitpropstreifen die Gewerkschaftsaufmärsche der damaligen Zeit: Ordentlich zu den Klängen einer Blaskapelle marschierende Arbeiter, die sauber gemalte Transparente («Haltet unsere Lebensmittel frei von Gift!») mit sich tragen. Er lässt Jugendliche von ihrem Frust erzählen. Er dokumentiert die Polizeieinsätze, interviewt Ärzte über die Folgen der staatlichen Knüppelei und fasst die zentralen Positionen der RebellInnen zusammen. «Wer sind denn die Akademiker?», fragte beispielsweise ein Demonstrationsredner im Zürich von 1968. «Das sind doch die Herren, die den Lohnabhängigen tagtäglich in den Fabriken und Büros begegnen.» So aktuell kann Geschichte sein. Der Film-, Foto- und Textband «Krawall» ist die vierte Publikation in der Reihe «Bibliothek des Widerstands» des Hamburger Laika-Verlags. Der erste Band, erschienen im März, beschreibt die Ereignisse rund um den 2. Juni 1967. Das war der Tag, an dem der von den Westmächten unterstützte iranische Potentat, Schah Mohammed Reza Pahlavi, Westberlin besuchte und an dem «ein systematischer, kaltblütig geplanter Pogrom» stattfand, wie der Publizist Sebastian Haffner später im «Stern» schrieb, «begangen von der Berliner Polizei an Berliner Studenten». Eine etwas übertriebene Darstellung (Pogrome sehen anders aus), aber der 2. Juni war ohne Frage «das Schlüsselereignis, das die Sozialrevolte in Westdeutschland und Westberlin ausgelöst hat» (Karl Heinz Roth). Denn an diesem Tag erschoss der Kriminalbeamte Karl-Heinz Kurras, der – wie man inzwischen weiss – auch der ostdeutschen Stasi zuarbeitete, den Studenten Benno Ohnesorg.
Die Buchtexte beschreiben die Ereignisse, Zustände und den Widerstand in einer Gesellschaft, deren Mehrheit von den Nazis sozialisiert und deren Elite von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern dominiert war. Aber eine Ahnung von den damaligen Stimmungen und Verhältnissen vermittelt erst die DVD, die auch diesem Band beiliegt – der Film «Der 2. Juni 1967» von Thomas Giefer und Hans-Rüdiger Minow und die Reportage «Polizeistaatsbesuch» (1967) des Schweizer Dokumentarfilmers Roman Brodmann, der dafür den renommierten Adolf-Grimme-Preis erhielt. «Mit der Bibliothek stellen wir der bürgerlichen Interpretation der Welt eine eigene, linke entgegen», sagt Karl-Heinz Dellwo, neben Willi Baer und Carmen Bitsch Mitherausgeber und Mitbegründer des Hamburger Laika-Verlags.
Eine nachträgliche Aufklärung sozusagen, die aber oft verblüffend aktuelle Einsichten bietet – gerade durch die Kombination von Wort- und Filmbeiträgen. «Texte ordnen ein, vermitteln Inhalte, reflektieren», für ein sinnliches Nachempfinden dessen, was damals die Menschen bewegte, seien audiovisuelle Medien jedoch weitaus geeigneter, erläutert Dellwo das Konzept der Reihe. Denn wer, der nur darüber liest, begreife heute noch den Sinn einer Minirock-Demonstration wie der in Zürich 1968? «Man wollte damals in allen Bereichen aufbrechen», sagt der radikale Linke, der wegen eines Anschlags der Roten Armee Fraktion in Stockholm zwanzig Jahre im Gefängnis sass. «Uns geht es nicht darum, diese Aufbrüche zu glorifizieren», sonderlich systemverändernd seien Miniröcke und lange Haare nun wirklich nicht gewesen. Aber sie gehörten dazu.
Hundert Bände soll die filmische Bibliothek umfassen, vielleicht werden es auch ein paar mehr. Über siebzig Filme sind bereits lizenziert. «Wir haben bei Filmschaffenden eine hohe Akzeptanz, weil wir die Filme restaurieren.» Immer mehr Cinematheken, so Dellwo, wenden sich an den Kleinverlag, «da ältere Filme nach dreissig Jahren ausbleichen und es im staatlichen Bereich kaum Gelder für die aufwendige Restauration gibt» – und schon gar nicht für Filme über Widerstandsbewegungen. Die Wiederherstellung alten Filmmaterials ist teuer. Bis zu 18 000 Euro habe der Verlag, dessen Bibliotheksprojekt von Privaten vorfinanziert wird, schon für die Restaurierung und Digitalisierung eines Films hinblättern müssen.
Zeitenbrüche
Ziemlich teuer war beispielsweise das «Portrait of a Revolutionary» von Yolande DuLuart (1972), von dem es in den USA nur noch ein Exemplar gab. Der Film zeigt die junge Angela Davis, die Ende der sechziger Jahre ihren Job als Hochschullehrerin verlor, weil sie sich für die Rechte der Schwarzen und der Frauen eingesetzt hatte und nach ihrer Inhaftierung weltweit zu einer Ikone des linken Widerstands wurde. Auch dieser Film, der die Dozentin und Aktivistin Davis ausführlich zu Wort kommen lässt, verschafft ein Gefühl für die Stimmungen und Subjektivitäten der damaligen Zeit.
Die sechziger Jahre waren ein Zeitenbruch, in dem eine neue Linke, vor allem eine internationalistische Linke entstand. Die Bibliothek beschränkt sich nicht auf weit zurückliegende Rebellionen: Der dritte Band der Reihe thematisiert die griechische Jugendrevolte Ende 2008 («Schrei im Dezember» von Kostas Kolimenos). Schwerpunkt aber bleiben die sechziger und siebziger Jahre: «Rebels with a Cause» über den US-amerikanischen StudentInnenverband SDS ist bereits erschienen; Bände über die US-Stadtguerilla Weathermen, über den Widerstand gegen den US-Putsch in Chile und die argentinische Militärjunta sowie über die globalisierungskritische Bewegung Attac werden folgen. Die Buch- und Film-Reihe – sie ist auf acht bis zehn Jahre angelegt – kann auch abonniert werden. (pw)