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Buchkritik:«Im Land des Hamam»

DJs, Tabakbauern und Scheiche

1. März 2007 | Ein neues Buch mit 25 Reportagen führt mitten hinein in das Leben der kleinen Leute in der Türkei.


Titelblatt «Im Land des Hamam»Alle haben eine ungefähre Vorstellung von der Türkei: Ist das nicht der Staat, in dem die religiös-konservative Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt regiert, aber weiterhin die Militärs herrschen? In dem gefoltert wird und eine kurdische Guerilla Bomben legt? Der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte immer wieder verurteilt wird und mit der Europäischen Union wegen Zypern im Clinch liegt?

All das stimmt – und doch ist damit das Land mit seinen vielen Widersprüchen auch nicht nur annähernd beschrieben. Hier der von Mustafa Kemal Atatürk festgeschriebene Laizismus, dort die vielen untertänigen Kopftuchträgerinnen; einerseits eine weitgehend fortschrittliche Verfassung, andererseits die feudalen Verhältnisse in Anatolien; oben viele sture Kommissköpfe, unten sozial und demokratisch engagierte Leute. Über kaum ein anderes Land kursieren in Westeuropa so viele Klischees.

Vielschichtiger Blick

Manchmal sei er ratlos, wenn er gefragt werde: «Wie ist die Türkei denn so?», schreibt Dieter Sauter in seinem Buch «Im Land des Hamam». Wie soll man ein Land mit so grosser Vielfalt beschreiben? Dieter Sauter skizziert das Problem im Vorwort – und bietet auf den folgenden Seiten eine überzeugende Antwort: Er redet mit den Menschen, die dort leben. In 25 Reportagen schildert der Autor das Leben der kleinen (und manchmal auch grossen) Leute, erzählt von ihren Nöten und (manchmal) ihrem Glück, lässt sie selber zu Wort kommen, informiert über Hintergründe und bietet uns so einen vielschichtigen Blick auf eine Gesellschaft, von der wir immer noch viel zu wenig wissen.

So besucht er beispielsweise im ersten Kapitel Mehmet, der in Istanbul einen Hamam, ein traditionelles Badehaus, betreibt. Und Mehmet, der dreimal am Tag ins Gewölbe steigt, um Holz nachzulegen («Wissen Sie, was das Holz heutzutage kostet?»), berichtet von seinen Nöten: Früher seien die Hamams Goldgruben gewesen, heute aber gehen nur noch die Armen hin, deren Wohnungen kein Bad haben. Eine simple Sozialstory, sollte man meinen. Doch Sauter macht mehr draus: Er vermittelt mit dieser kurzen Reportage – es war gerade Frauentag im Hamam – auch ein wichtiges Stück Kulturgeschichte.

Sauter gelingt es auch in den folgenden Kapiteln, das Allgemeine im Einzelnen darzustellen. Anhand eines Selbstmords im Hafen von Izmir beschreibt er die grausigen Folgen der Wirtschaftskrise von 2001 und die Schuldenfallen, die die Banken stellen. Am Beispiel eines jungen Arztes in Anatolien erzählt er, wie es um das Gesundheitswesen in der Osttürkei bestellt ist: Notdürftig ausgerüstete DoktorInnen, zuständig für fünfzig Dörfer, die im Winter (wenn das Auto im Schnee stecken bleibt) stundenlang laufen müssen, um dann Dutzende von PatientInnen auf offenem Feld zu behandeln, die ihrerseits stundenlang gelaufen waren.

Hüseyins Schicksal

Sauter bringt auch Salih zum Sprechen, der bei Diyarbakir die letzte Kamelkarawane unterhält. Er redet mit Serkan, der in Istanbul als DJ und Radiomoderator jobbt und trotzdem kaum die Miete zahlen kann (um 8 Uhr raus zum Radio, um 18 Uhr wieder heim, um 23 Uhr samt Koffer mit den illegal gebrannten CDs in die Bar, nach 4 Uhr ins Bett). Er zitiert die begeisterte Lehrerin Renzi aus Izmir, die in einer zusammengenagelten Dorfschule unterrichtet und an der Trostlosigkeit der Verhältnisse und des staatlichen Bildungswesens allmählich zerbricht. Tabakbauern, Kaffeebrauer, Wasserpfeifenhersteller, Fischer, Modedesigner (die eine Kollektion «Karl Valentin» entwerfen) oder die Derwischin Didem Edman (die in Istanbul gemeinsam mit Männern betet, indem sie tanzt) – all sie erzählen von einer Türkei, die wir kaum kennen.

Dieter Sauter kennt das Land. Er war von 1992 bis 2005 Leiter des ARD-Studios in Istanbul, kann Menschen beobachten, zum Reden bringen – und zuhören. Besonders eindrücklich ist seine Reportage über den Aga von Eski Kale: Mustafa, Scheich und Führer eines Unterstammes im Südosten der Türkei, ist stolz darauf, in seinem ganzen Leben keine fünf Minuten gearbeitet zu haben. Vor einiger Zeit hat sich der Feudalherr ein ganzes Dorf gekauft, in dem sich die Leute schinden, um die Pacht zahlen zu können. Die Tatsache an sich ist nicht neu. Aber Sauter schildert seine Begegnung mit dem herrischen Aga auf eine so leichte und doch eindrückliche Weise, dass man das Gefühl hat, dabeizusitzen – und dass einem plötzlich die Szenen aus Yasar Kemals anatolischen Romanen wieder in den Sinn kommen, die offenbar doch nicht in einer fernen Vergangenheit spielen.

Genauso mitreissend, aber noch beklemmender ist Sauters Porträt von Hüseyin, der 1995 im Alter von zwanzig Jahren in seinem Heimatort Masina mit anderen von der Polizei aufgegriffen und wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer linken Organisation gefoltert wurde. Hüseyin wurde zu einem Geständnis gezwungen und kam wieder frei. Aber Freiheit war das nicht, was er danach erlebte: Weil er den Folterern die Folter vorwarf, wurde er überall schikaniert, versank in tiefer Depression, rappelte sich wieder hoch, stürzte erneut ab. Sauter hat Hüseyins Schicksal über Jahre hinweg verfolgt und protokolliert – ohne Pathos, nüchtern und mitfühlend, mit vielen Zusatzinformationen. Solche Geschichten hinter den Schlagzeilen zeichnen Sauters Buch aus. (pw)