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Buchkritik: Neue Bergbücher

Schräge Grenzen

31. März 2005 | Weshalb Catherine Destivelle solo ging, wie Anderl Heckmair und andere Vagabunden die Berge eroberten, und warum ein Bier vor der Tour zumindest das Erinnerungsvermögen trübt.

Cover des Buchs «Solo durch die grossen Wände»Wahrscheinlich kennen Sie den doofen Spruch: Da stehen zwei Bergsteiger auf einem Gipfel, der eine will ein Foto schiessen und bittet den anderen, doch einen Schritt zurückzutreten ... Es ist schon ziemlich dumm, einen solchen Schritt zu tun, ohne nach hinten zu blicken, und noch dümmer ist es, auf einem schwierigen Viertausender in der Antarktis – wo weit und breit keine Hilfe zu erwarten ist – rückwärts ins Leere zu treten. Genau das aber ist der vielleicht bekanntesten Alpinistin der letzten Jahrzehnte passiert.

Glücklicherweise griff ihr Begleiter rechtzeitig zum Seil, und mit viel Glück und Ausdauer schafften die beiden – Catherine Destivelle mit gebrochenem Bein und gebrochener Schulter und ihr Partner Erik Decamp – den Abstieg über die 1600 Meter hohe Wand zurück ins Basislager.

Destivelle schildert in ihren Erinnerungen diesen Rückzug ebenso packend wie ihre Wintertouren durch die schwierigsten Nordwände der Alpen, die sie berühmt gemacht hatten, weil da zum ersten Mal eine Frau ganz auf sich gestellt unterwegs war. Schon vorher hatten Frauen die Nordwände von Eiger, Grandes Jorasses und Matterhorn durchstiegen, aber noch nie eine allein und schon gar nicht im Winter. Aber als «Vertreterin und Verfechterin des Frauenbergsteigens» versteht sich Destivelle nicht, wie Gaby Funk, die Übersetzerin des Buches, anmerkt – es waren ja auch schon vor ihr Frauen professionell in den Bergen unterwegs gewesen, etwa als Bergführerinnen.

Destivelle überkletterte Grenzen – und das in mehrerlei Hinsicht. Sie durchstieg Routen, die einer Frau vorher nicht zugetraut worden waren. Nach einer Tour an den Trangotürmen im Karakorum in Pakistan, schreibt sie, war ihr fälschlicherweise vorgeworfen worden, dass «mein Seilpartner – natürlich ein Mann – die ganze Arbeit gemacht» habe. Also entschloss sie sich zu den Alleingängen, die «meinem verletzten Stolz Genugtuung verschaffen» sollten. Was ja auch gelang. Zweitens ebnete Destivelle – sie war schnell zum Medienstar avanciert – anderen Kletterinnen den Weg zu Sponsorengeldern, ohne die auch im Bergsteigen Spitzenleistungen kaum möglich sind. Die Kommerzialisierung begann den Sport zu prägen. Das beschreibt Destivelle in aller Offenheit, und das ist, neben ihren Schilderungen und Reflexionen, eine Stärke des Buchs.

Cover des Buchs «Eigernordwand, Grandes Jorasses und andere Abenteuer» 1992 durchstieg Destivelle die Eigernordwand – auf der Route des Erstbesteigers Anderl Heckmair. Dessen Autobiografie, beide Bücher sind im gleichen Verlag erschienen, hat ganz andere Vorzüge. Heckmair, er starb vor zwei Monaten im Alter von 98 Jahren, beschreibt in seinen Erinnerungen, wie es war, als er in den zwanziger und dreissiger Jahren in die Berge zog. Er war arbeitslos, keiner seiner Kumpel hatte Geld. Fünfzig Mark und das Velo mussten für einen Bergsommer genügen. Und so strampelte er von München aus in die Dolomiten, ins Ötztal, in die Bernina, ins Montblanc-Gebiet und oft übers Wochenende mal kurz in den Wilden Kaiser und ins Karwendel-Gebirge.

Zu Beginn seiner Kletterkarriere hatte der gelernte Gärtner eine Stelle in der Münchner Stadtgärtnerei gefunden. «Dort ahnten sie aber nicht, was sie sich mit mir antaten.» Denn Heckmair machte sonntags eine schwere Klettertour und musste «meist auch noch bei einer Bergung helfen». Damals suchten kühne, aber schlecht ausgerüstete Jugendliche neue Wege durch die Felswände; viele stürzten ab.

Seine Arbeitswoche sah also so aus: «Am Montag und Dienstag war ich müde, am Mittwoch musste ich auf die Beerdigung, da konnte man schlecht etwas dagegen sagen, und von Freitag bis Samstagmittag sparte ich meine Kräfte für die Tour am Sonntag.» Heckmair, der nur Berge im Kopf und in den Beinen hatte, wurde bald gefeuert.

Im ersten Drittel des Buchs wird reihum gestorben, pro Seite ein toter Bergkamerad. So wars halt damals. Auch die Drusenfluh-Südwand im Rätikon war verflucht. «Der Erstersteiger kam durch, die Zweiten stürzten ab, der Dritte kam durch, die Vierten stürzten ab, und so ging das weiter», schreibt Heckmair, alle Partien mit der geraden Zahl wurden von der Wand verschlungen. Die letzte Gruppe, die durchsteigen konnte, war die neunte Seilschaft gewesen, sie hatte fünf Tote in der Wand gezählt. Würde sich die schaurige Mär auch beim zehnten Mal wiederholen? «Das wollten wir genau wissen.»

Heckmair und sein Begleiter fanden nach ein paar Seillängen die ersten Toten. Sie waren also auf dem richtigen Weg. «Nach der Beschreibung müssen wir jetzt nach links ... und nach 150 Metern die zweiten Toten finden. Stimmt auffallend, sie sind uns eindringliche Wegweiser», berichtet Heckmair recht lakonisch und erzählt auch, wie er am nächsten Tag in Schruns (Vorarlberg) die Leichenfunde meldete, zum Pfarrer geschickt wurde, der ihn an den Bürgermeister verwies, welcher sie zur nächsten Instanz weiterleitete.

«Niemand zeigte sich interessiert, und unser Angebot, bei der Bergung behilflich zu sein, findet wenig Begeisterung. Dann halt nicht, uns ist es auch egal.» Würden heute Fremdenverkehrsorte ihre Gäste so hängen lassen? (Vielleicht sind die Schrunser Honoratioren aber auch einfach davon ausgegangen, dass die Toten in die Zuständigkeit der Schweizer Behörden fallen: Die Drusenfluh-Südwand liegt im Prättigau, die Toten hingen somit auf dem Gemeindegebiet von St. Antönien.)

Die Beiläufigkeit, mit der Heckmair grosse Dramen und kleine Begebenheiten schildert, ist umwerfend; er erzählt überzeugend, und so glaubt man ihm auch, dass er nach seiner sensationellen Erstdurchsteigung der Eigernordwand (1938) von den Nazis vereinnahmt wurde. (Wir haben uns «genau wie wohl jeder andere geehrt gefühlt, als wir ... dem damals mächtigsten Mann in Deutschland [Hitler] präsentiert und von ihm erst noch ausgezeichnet wurden. Das hätte auch einem Tanzbären passieren können.») Nach den Ehrungen wurde Heckmair zum «Stammführer» ernannt, später auf eine politische Schulung der Nazis geschickt, dort beim Schafkopfen (einem Kartenspiel) erwischt, als Reichsleiter Robert Ley eine Rede hielt, und an die Ostfront gestellt.

Der wohl beste Teil seines Buches aber sind die Geschichten aus den frühen dreissiger Jahren, weil man sich die damaligen Verhältnisse heute kaum vorstellen kann. Noch ein Beispiel? Nach einer Tour durch die Bernina zogen Heckmair und sein Kumpan zu Fuss durchs Engadin, übernachteten – wie so oft – in einem Heuhaufen, wurden frühmorgens vom empörten Bauer geweckt, den sie daraufhin (weil er so unverständlich rätoromanisch tobte und sie so früh gestört hatte) mit dem Kopf voraus ins Heu steckten, und marschierten daraufhin «naiv und ahnungslos» ins nahe gelegene Dorf Zuoz, wo die Polizei sie schon erwartete und in ein Turmzimmer lockte und wegsperrte. Doch die Ordnungskraft hatte vergessen, den beiden Bergsteigern das Seil wegzunehmen, und so waren sie Stunden später wieder auf der Walz.

Cover des Buchs «Klettersteigatlas Alpen»Zu Heckmairs damaligen Begleitern gehörte auch Hans Ertl. Ertl ist mittlerweile in Vergessenheit geraten (er starb im Jahr 2000). In meiner Jugend aber war sein Name uns bergbegeisterten Kids ein Begriff, hatte er doch die schwierigsten Nordwände der Ostalpen (die der Königspitze und die des Ortlers) durchstiegen. Ich weiss, viele SchweizerInnen können sich jenseits der östlichen Landesgrenze keine Alpen vorstellen – aber es gibt sie, schöne sogar. Der Ortler zum Beispiel, der höchste Berg Südtirols, bietet einfache und schwierigere Anstiegsrouten (sein «Hintergrat» ist ein Genuss, vor allem wenn man ihn fast allein begehen kann). Anlässlich der Erstbesteigung vor 200 Jahren hat der Bergverlag Rother kürzlich einen Bildband herausgegeben, der nicht nur die Besteigungsgeschichte schildert, sondern auch den Gebirgskrieg am Stilfser Joch (1915 bis 1918) thematisiert. Mit dem Schwinden der Gletscher treten dort immer wieder Relikte zutage: alte Konservendosen, Munition, Knochen.

Es gibt freilich auch andere Grenzen, alkoholische zum Beispiel. Es ist schon eine Weile her: Der Mindelheimer Klettersteig in den Allgäuer Alpen war gerade eingerichtet worden; mein Vater, mein jüngster Bruder und ich waren in Fast-Rekordzeit zur Fiderepass-Hütte aufgestiegen; ein Bier um neun Uhr morgens konnte da nicht schaden, den Alkohol schwitzt man ohnehin wieder raus. Dachte ich. Und erinnerte mich schon am Nachmittag nicht mehr an die vielen Leitern, Stahlseile und Stahlstifte im glatten Fels. Erst der Klettersteigatlas Alpen hat mir die damalige Tagestour in Erinnerung gerufen («mässig schwierig, z.T. sehr luftig»).

Mittlerweile installieren viele Bergdörfer und Bergführerverbände solche Eisenwege – sogar in der Schweiz. Denn sie erlauben auch AnfängerInnen am Fels, ihre Grenzen auszuloten. Der Klettersteigatlas bietet für jede der über 700 aufgeführten Routen viel Informationen, ausserdem Tipps und ein paar historische Hinweise: Der vielleicht erste Klettersteig der Alpen war der Wirtschaftsweg von Leukerbad nach Albinen. Den kann man heute noch begehen – aber besser ohne frühes Bier. (pw)