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Buchkritik: Wanderführer für den Blick ins Weite

Die Welt am Weg

22. März 2001 | Wanderbücher sind was für Stubenhocker. Aber einige können auch Augen öffnen. Die Geschichte einer Annäherung.


Cover des Buchs «Veltliner Fussreisen»«Siehst du den Pfeiler?» Keine Antwort von oben. «Den Pfeiler! Siehst du den Pfeiler?» Es dauerte eine Weile, dann kam die Antwort: «Welchen Pfeiler?» Da war nichts zu machen. Also hinauf zum Bruder, der eine Seillänge vorgeklettert war. Gemeinsam studierten wir in der Wand den Kletterführer, den wir ausnahmsweise mal dabeihatten. Und da stand: «Quergang links zum vorspringenden Pfeiler. An einer Rippe im Riss teilweise überhängend zu Felskopf. Durch Kamin, der oben überhängend und dann zur Rinne wird, weiter zum Grat.»

Schön und gut, aber hier gab es überall Rippen, Risse und Rinnen. Doch wo entlang und durch was hindurch? Nach langem Suchen entdeckten wir rechts oben einen verrosteten Haken. Vielleicht bringt uns der ja weiter.

So war das immer. Auf unseren Berg- und Klettertouren hatten wir nur selten einen Alpenvereinsführer dabei, der uns den Weg weisen sollte; wir konnten uns die teuren Bücher nicht leisten. Und wenn wir uns mal einen Band ausgeliehen oder die Kopie einer Routenbeschreibung in den Rucksack gesteckt hatten, kapierten wir die Anweisungen nicht. Rippen-Risse-Rinnen gab es überall zuhauf. Aber irgendwo und irgendwie gings immer weiter.

So hatte uns schon der Vater in die Berge geführt. Stundenlang sass er über den Wanderkarten von Freitag & Berndt (Massstab 1:100.000) und tüftelte Touren aus, von Hütte zu Hütte, von Gipfel zu Gipfel. Mehr brauche man nicht, sagte er, vor Ort würde man schon weitersehen. Das führte manchmal zu unliebsamen Überraschungen – etwa dann, wenn sich kurz vor dem Gipfel plötzlich eine Kluft auftat und wir das Seil leichtsinnigerweise zu Hause gelassen hatten. Dann suchte man halt nach neuen Wegen oder kehrte um.

Die Berge haben wir auf diese Weise ziemlich gut kennen gelernt. Und manchen Vorteil gab es ausserdem: Als mein Vater und ich es schafften, uns sogar am Hörnligrat zu versteigen, weil keiner auf den Gedanken gekommen war, vorher eine Wegbeschreibung zu lesen, landeten wir unversehens in der Ostwand des Matterhorns. Dafür hatten wir – Stunden später – den sonst völlig überlaufenen Gipfel aber für uns allein.

Wachsender Bedarf

Wander- und Bergbücher waren früher überflüssig wie ein Kropf. Wer gehen will, soll gehen; ein Weg findet sich immer. Ungefähre Angaben genügten für die Tour – hier liegt der Bahnhof, dort steht eine Hütte, droben winkt der Grat. Ausserdem konnte man ja andere BerggängerInnen, den Hirten, den Hüttenwart fragen.

Doch heute reichen so wenige Koordinaten längst nicht mehr. Heute wollen viele BergsteigerInnen wissen, was sie erwartet. Hüttenaufstieg: 3.15 Stunden; Gipfelanstieg: 4.30 Stunden; Schwierigkeit: III+ nach der UIAA-Skala usw. Mit der Masse der Bergbegeisterten wuchs auch der Bedarf an alpiner Literatur. Der Berufsalltag wurde härter, die Jobs anspruchsvoller, das Leben stressiger – da sehnt man sich für das bisschen Freizeit, das noch bleibt, nach etwas Sicherheit. Und sucht nach Anleitungen. Wer in ein paar Wochen Ferien hineinpacken muss, was ihr oder ihm während eines Arbeitsjahrs an Freude, Musse und Kreativität verwehrt wird, hat ein Anrecht auf Entspannung – und darauf, dass aus der vermeintlichen Dreistundentour nicht plötzlich ein Zweitagesmarsch wird.

Und so nahm die Zahl der Wanderbücher zu. Sie wurden bunter, dicker und entwickelten sich zu wahren Kompendien: die schönsten Klettersteige in den Dolomiten, die prächtigsten Wanderwege der Ostalpen, die besten Touren im Berner Oberland. Allesamt viel zu unhandlich und zu schwer für den Rucksack, aber hübsch anzusehen. Und gut für die Planung, die ja oft schon im nebligen November beginnt – Bücher für Stubenhocker, die sich lange vor dem Bergsommer auf Touren vorbereiten oder einfach nur spazieren gucken wollen. Wie gesagt: überflüssig wie ein Kropf.

Widerstandsnester in den Bergen

Es dauerte eine Weile, und es brauchte eine ganz andere Art von Wanderbüchern, bis auch mich gedruckte Wegbegleiter begeistern konnten. Das waren Bücher, die mehr erklärten, als zu sehen war; die die Augen öffneten, wo die Natur schwieg. Bücher wie die «Veltliner Fussreisen» von Jürg Frischknecht und Ursula Bauer, das wir im Rucksack stecken hatten, als wir einmal vom Ofenpass über Bormio Richtung Tirano zottelten.

Ohne dieses Buch wären uns wohl kaum die verwitterten Militärstrassen aufgefallen, die während des Ersten Weltkriegs in die Berge rund ums Stilfser Joch gehackt und gesprengt worden sind (und wir wüssten vielleicht bis heute nicht, welche Gemetzel hier stattfanden). Ohne Lesehilfe hätten wir auch die alte Bädertradition im mittlerweile ziemlich bedeutungsarmen Bormio übersehen. Und ohne die Routenbeschreibung wären wir wahrscheinlich auch nicht an jener erbärmlichen Behausung über dem Veltliner Tal vorbeigekommen, in der das Elend aus jeder Ritze atmet und die uns zeigte, wie Armut im reichen Norditalien aussehen kann: eine Blechbüchse als Kochtopf, ein Campingbrenner als Herd, ein einziges Zimmer als Familienunterkunft.

Wanderbücher wie «Veltliner Fussreisen» bilden inzwischen einen festen Bestandteil im Programm des Zürcher Rotpunktverlags. Die Idee, den Alpenraum nicht nur als Freizeitpark darzustellen, kam dem Verlag Anfang der neunziger Jahre. 1992 marschierte eine kleine Gruppe von UmweltschützerInnen in insgesamt 104 Tagen den gesamten Alpenkamm entlang von Wien nach Nizza.

Das Projekt «Transalpedes» war der Versuch, einer grösseren Öffentlichkeit bewusst zu machen, wie sehr der Lebensraum und das Ökosystem Alpen bedroht sind; gleichzeitig sollte es zur Vernetzung der vielen Einzelinitiativen in den Tälern beitragen. Denn überall – in Österreich, in der Schweiz und in Frankreich – widersetzen sich Gruppen (und manchmal ganze Dorfgemeinschaften) den grossen Plänen. Die Widerstandsnester sind fast so zahlreich wie die Versuche mächtiger Interessengruppen, die die Berggebiete für den Transitverkehr, die grossen Tourismusströme oder die Energiegewinnung nutzen wollen. Der Rotpunktverlag fasste 1993 das «Transalpedes»-Projekt in Buchform («Alpenglühn») und entwickelte daraus ein Konzept für Wanderbücher, die nicht nur Stubenhocker anregen.

Klassiker und handlichere Bände

Cover des Buchs «Glarner Überschreitungen»Inzwischen betreibt der kleine Verlag sogar zwei Buchreihen. Da sind einerseits die Wanderlesebücher. Sie laden zum Verweilen ein, weil sie jedes Dorf am Wegrand vorstellen, Unterkünfte beschreiben, aus Speisekarten zitieren und sozialgeschichtliche oder literarische Ausflüge enthalten. Aber gewandert wird auch, und das nicht zu knapp – manchmal empfehlen die AutorInnen Märsche, die mit zehn Stunden Dauer (oder mehr) eine gute Kondition voraussetzen. Klassiker dieser Reihe sind die Wanderbücher von Bauer und Frischknecht: «Grenzschlängeln – zu Fuss vom Inn an den Genfer See» (1995), «Veltliner Fussreisen – zwischen Bündnerpässen und Bergamasker Alpen» (1997), «Antipasti und alte Wege – Wandern im anderen Piemont» (1999).

Etwas leichter als die bis zu anderthalb Pfund schweren Wanderlesebücher sind die bunten Bände der «Naturpunkt»-Reihe. Diese aufwendig produzierten Bücher (farbige Karten, zahlreiche Fotos, anspruchsvolles Design) enthalten viele Wander- und Skitourenvorschläge und sind entweder geografisch oder thematisch geordnet.

Wer etwa dem ersten Band dieser Reihe («Pässespaziergang» von Dominik Siegrist, 1996) folgen will, wandert von Wassen nach Domodossola und erfährt so einiges über die Welt am Wegesrand – über bäuerliche Selbsthilfe im Meiental, über SpazierfahrerInnen an Grimsel, Furka, Susten oder die Strompolitik im nördlichen Piemont. Ein Regionalführer ist auch das Buch «Glarner Überschreitungen» (1999). In ihm schildert François Meienberg zum Beispiel die erstaunliche Geschichte des Textilfabrikanten Conrad Blumer, der 1840 nach Südostasien reiste und dort Ideen für Muster und Stoffe sammelte, die später im Glarnerland produziert und nach Asien exportiert wurden. Heute nennt man so was Globalisierung.

Eher thematisch ausgerichtet sind Bände wie «Klimaspuren» (1997) oder «Winterspuren» (1999), deren Tourenvorschläge im «Treibhaus Schweiz» durch bedrohte Landschaften führen. In diesem Jahr publiziert der Verlag Regionalführer zum Jura und zur Region um den Brennerpass; ausserdem sind zwei Lesebücher («Mordsspaziergänge» und «Bäderwanderungen») in Planung. Alles Sujets, die für meinen Geschmack mindestens 1000 Höhenmeter zu tief angesiedelt sind. Aber manchmal regnet es ja auch. Und der nächste November kommt bestimmt. (pw)