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Andere Länder: Fluchtgeschichte im Grenzgebiet
WächterInnen wider das Vergessen
28. April 2022 | Noch bis 26. Mai steht am Kreuzlinger Zoll die Figuren-Ausstellung «Odyssey» des britischen Bildhauers Robert Koenig. Hinter ihr steckt mehr als man sieht.
Maria Dudek war 21 Jahre alt, als sie 1942 von den Nazis aus einem kleinen südpolnischen Dorf in ein deutsches Zwangsarbeitslager verschleppt wurde. Dort, nahe Speyer, schuftete sie zwei Jahre lang bei einem Flugzeugwerk, bis die alliierten Truppen näher rückten und das Wachpersonal sie und andere polnische und russische Frauen mit sich nahm. Nun musste sie – bereits völlig entkräftet – Uniformen nähen. Aufgegriffen und befreit von US-Soldaten, verbrachte sie – ausgehungert und schwer krank – zwei Jahre in einem Flüchtlingslager, bis ihr 1947 ein Job in einer nordenglischen Baumwollfabrik angeboten wurde. Zurück in die zerstörte, unsichere Heimat wollte sie nicht, und so ging sie auf die Insel, wo sie den polnischen Ex-Soldaten Gerhard König heiratete, der auf der Seite der Alliierten gekämpft hatte, und wo 1951 ihr Sohn Robert in Manchester auf die Welt kam.
Das ist, kurz zusammengefasst, ein wesentlicher Teil der Geschichte von Robert Koenigs Mutter, die ihn für immer prägen sollte. Denn schon früh, noch vor seinen Studien zuerst an der Brighton Polytechnic, dann an der Slade School of Art in London, trieb ihn die Frage nach seiner Familie um. «Ich hatte ja, abgesehen von meinen Geschwistern, in England keine Angehörigen», sagt Koenig. Und so machte er sich bereits in den 1970er-Jahren auf den Weg nach Dominikowice, dem Heimatdorf seiner Mutter am Fuss der Karpaten. Dort, so erzählt er, habe er herumgefragt, recherchiert, in Archiven gestöbert und irgendwann Spuren seiner Großfamilie gefunden, die ins 18. Jahrhundert zurückreichen.
Ein Gesamtkunstwerk entsteht
1996 beschloss der mittlerweile renommierte Bildhauer, den längst vergessenen Familienmitgliedern eine Statur zu geben – schmal, 2,50 Meter hoch und aus Hartholz geschnitzt. Die ersten drei Skulpturen entstanden in England, die nächsten zwanzig in Dominikowice, wohin er regelmäßig reiste und Bäume nutzte, «die dieselben Wurzeln hatten wie ich». In fünf Jahren kamen 23 Statuen zustande, die Koenig anfangs für sich schnitzte. Doch dann wuchs in Südpolen das Interesse an seinem Projekt, und so begab er sich mit den Figuren auf Reisen – nach Lwiw, nach Krakau, nach Zakopane, nach England.
Gleichzeitig schuf er weitere Figuren. Seine Reiseausstellung «Odyssey», die mittlerweile in zwanzig europäischen Städten zu sehen war, wuchs auf inzwischen 46 Statuen an: Überall dort, wo sie gezeigt wurden, schuf er gleich zwei Werke aus Bäumen der Umgebung, aus Linden-, Zedern-, Pappel- oder Ulmenholz: Eines nahm er mit, eins blieb vor Ort. Das war zuletzt in Leutkirch im Allgäu so, in Memmingen, in Weingarten, Nürtingen und Speyer. Und das ist jetzt hier, an der deutsch-schweizerischen Grenze, nicht anders.
Mahnmal für Flucht und Vertreibung
In den 25 Jahren seiner Ausstellung hat sich noch mehr geändert: Was als künstlerische Bewältigung der eigenen Vergangenheit begann, ist längst zu einem Symbol, einem Mahnmal für Flucht und Vertreibung, für Migration «in Zeiten von Unterdrückung, Hunger, Krieg und Klimakatastrophe geworden», wie Koenig es formuliert. Dass Menschen fliehen müssen, sei schon immer so gewesen, sagt Koenig und beugt sich auf der Kreuzlinger Piazza Cisternino (am Boulevard) wieder über den Holzstamm: «Auch hier gibt es niemanden, dessen Familie auf tausend Jahre zurückblicken kann.» Und die Migration – mit all ihrer Unsicherheit, Verzweiflung, Trauer und Hoffnung – werde, da ist er sich sicher, angesichts der aktuellen Krisen noch zunehmen.
Geändert hat sich die Tönung seiner bewusst nur grob geschnitzten Figuren ebenfalls – auch aufgrund von Anregungen der Ausstellungsinitiativen. «In Weingarten haben sie mich gebeten, eine Geflüchtete aus Afrika darzustellen, in Nürtingen habe ich einen jungen Sinti geschnitzt.» Und hier schafft er nun aus Eichenholz das ungefähre Bildnis eines afghanischen Flüchtlings, der im Agathu, dem Kreuzlinger Zentrum für Asylsuchende im Thurgau, aktiv ist. Es wird am 5. Mai am Hauptzoll der Öffentlichkeit vorgestellt.Zeit für einen Seitenwechsel
Robert Koenig arbeitet momentan nicht nur in der Öffentlichkeit (wo er mit typisch nordwestenglischer Zugewandtheit alle Fragen beantwortet). Er besucht auch Schulklassen und leitete vergangenen Sonntag in Agathu (an der Freiestrasse 28a Kreuzlingen) einen Workshop mit jungen Migrant:innen. «Zu sehen, mit welcher Begeisterung sie schnitzen lernen wollten – das war schon was Besonderes», sagt er.
A propos Agathu: Dass Koenigs Ausstellung bis 26. Mai am Hauptzoll steht, ist nicht zuletzt dem Thurgauer Arbeitskreis für Geflüchtete zu verdanken, der derzeit sein 25-jähriges Jubiläum feiert (siehe Kasten). Inzwischen weitgehend akzeptiert, hat Agathu lange um die Anerkennung seiner ehrenamtlichen Arbeit kämpfen müssen, wie Karl Kohli in seiner Rede bei der Vernissage zu Koenigs Ausstellung am vergangenen Freitag erläuterte («früher war uns die Stadtverwaltung feindlich gesonnen»). Das ist inzwischen anders. Und so wäre es vielleicht an der Zeit, dass auch die Zivilgesellschaft auf der deutschen Seite der Grenze wahrnimmt, was sich im Thurgau tut. (pw)