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Andere Länder: Die Defizite der EU

Die Linke verliert Europa

17. Juni 2004 | Kritik an der Europäischen Union kommt nur noch von rechts. Das ist ein Fehler.

Der grosse Mann der britischen Labour-Linken hat also Recht behalten. Die EU sei zu zentralistisch, die Kommission, die den gemeinsamen Markt dirigiert, sei nicht gewählt, und der Ministerrat bilde das eigentliche Parlament, sagte er auf einer Veranstaltung. Der Ministerrat «ist das einzige Parlament der Welt, das im Geheimen tagt und Gesetze verabschiedet. Meine Sorge ist, dass dies genauso im Nationalismus enden könnte wie der Versuch, den Kommunismus von Moskau aus zu zentralisieren.» Die Veranstaltung fand vor zwölf Jahren in Zürich statt (im Rahmen der WOZ-Reihe «Schöne Neue Weltordnung»), und Tony Benn, der so nachdrücklich vor den Folgen des Demokratiedefizits warnte, wusste, wovon er sprach: Er sass selber fünf Jahre lang im Ministerrat und war für kurze Zeit dessen Präsident.

Die Wahlen zum EU-Parlament haben seine Befürchtungen bestätigt. In Britannien fielen sie besonders spektakulär aus. Dort hat die bisher bedeutungslose, ausländerfeindliche und teilweise offen rassistische Unabhängigkeitspartei des Vereinigten Königreichs (Ukip) knapp siebzehn Prozent der Stimmen gewinnen können; die beiden grossen Parteien, die Labour-Partei und die Konservativen, mussten hingegen ihre grösste Niederlage bei nationalen Wahlen seit dem Ersten Weltkrieg einstecken. Natürlich spielte dabei - wie bei allen Abstimmungen in den 25 EU-Staaten – die nationale Politik eine entscheidende Rolle.

So hatte Tony Blair, um endlich den Schatten des Irakkriegs loszuwerden, den EU-skeptischen BritInnen ein Referendum über die EU-Verfassung versprochen und implizit einen Stopp der europäischen Integration in Aussicht gestellt. Und sein Innenminister David Blunkett wettert – wie sein deutscher Kollege Otto Schily – lautstark gegen Terroristen, ImmigrantInnen, «falsche Asylanten». Damit lieferten Blair und Blunkett den Ukip-Strategen die Vorlagen.

Kaum war das Wahlergebnis bekannt, begannen Ukip-Abgeordnete Verhandlungen mit der ebenfalls EU-feindlichen, nationalkonservativen Liga der polnischen Familie, der EU-skeptischen polnischen Partei Selbstverteidigung, der tschechischen Freiheitsunion, der dänischen Juni-Bewegung und der niederländischen Partei Europa Transparent. Das Europa der NationalistInnen beginnt sich zu formieren. Die linken EU-KritikerInnen hingegen – sie hatten etwa in Dänemark Gewicht – sind weitgehend verschwunden. Und das ist kein Zufall. Denn überall auf dem Kontinent ist im Laufe der letzten Jahre die linke Kritik an der undemokratischen, marktorientierten und neoliberal ausgerichteten Union verstummt. Tony Benn zum Beispiel ist in Britannien zwar so populär wie nie zuvor, aber seine grundsätzlichen Einwände gegen die Verfasstheit der EU wollen nicht einmal die inzwischen wieder etwas konfliktfreudigeren Gewerkschaften hören. Sie hoffen, dass die wenigen positiven Sozialregelungen der Union endlich auch in Britannien umgesetzt werden.

Es gibt kaum noch eine linke Partei in Europa, die die EU insgesamt infrage stellt und über die Alternative eines sozialen, gerechten, nach aussen hin friedlichen Zusammenschlusses der europäischen Staaten nachdenkt. Am schlechten Wahlergebnis hätten solche Überlegungen und Initiativen wenig geändert (die Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken hat viele Sitze verloren). Aber das Feld wäre nicht den rechten EU-KritikerInnen überlassen worden.

So aber bleibt die Union in den Augen vieler BürgerInnen die scheinbar unantastbare, nicht kontrollierbare, gesichtslose Macht, die Privatisierungen verordnet, den Marktwettbewerb verlangt und nationalstaatliche Beschäftigungsprogramme blockiert. Kein Wunder, dass da nur noch eine schwindende Minderheit ein Gremium wählen geht, das eher einer Ständeversammlung in Zeiten der absoluten Monarchie gleicht als einem Parlament, das die Interessen der Menschen vertritt. Auch über die neuen EU-BürgerInnen im Osten ist die Union gekommen wie ein unabwendbares Naturereignis. Ihre Stimmenthaltung war, so gesehen, eine höchst rationale Entscheidung. Aber sie stärkte die Rechte.

Ende der neunziger Jahre sassen SozialdemokratInnen in dreizehn der damals fünfzehn EU-Regierungen. Sie hätten einiges verändern können. Aber sie taten seinerzeit lieber das, was sie heute noch gerne tun: Sie zeigen über ihre Schulter und machen für ihre eigene wirtschaftsliberale Politik Brüssel verantwortlich. Aber wer entscheidet in Brüssel? Der Ministerrat, also die VertreterInnen der Regierungen. Dass die sozialdemokratische Fraktion ohne die spanische PSOE, die französische PS und das italienische Linksbündnis noch mehr Sitze im EU-Parlament eingebüsst hätte, ist kein Trost. Die Linke verliert Europa. (pw)